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Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)

Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)

Titel: Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
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Temps . Übersetzt von Jürgen Schröder.
Philippe Nassif ist französischer Philosoph.

Im Hintergrund das Murmeln Babylons

Im Gespräch mit Manfred Osten [ 33 ]
    OSTEN: Herr Sloterdijk, Ihr Libretto ist für mich ein archäologisches Werk. Es weist eine Vielzahl von Schichtungen auf. Für die meisten Menschen heute ist die babylonische Welt eine Terra incognita. In Ihrem kürzlich erschienenen »Tagebuch«-Werk Zeilen und Tage schreiben Sie: »Völlig verloren scheint die Lage der Mesopotamistik, die nach einer kurzen Blüte um 1900 fast nichts in der Hand hat, um verbindlich zu erklären, worum es zwischen Euphrat und Tigris ging, was ebenso betrüblich wie abwegig ist, weil dort zwei Dinge erfunden wurden, ohne die wir uns den Aufenthalt in der Welt nicht mehr vorstellen könnten, nämlich die Woche und die Freundschaft.«
    Eine zweite Beobachtung betrifft die »Hintergrundstrahlung« des Gilgamesch-Epos, die man in Ihrem Libretto durchweg spürt. Es ist das Sensationelle Ihres Versuchs, daß Sie eine gewisse Rehabilitation Babylons vornehmen. Tatsächlich betreten wir ja mit Babylon kontaminiertes Gelände. Durch das Alte Testament ist die mesopotamische Metropole negativ belegt, dort wird sie als die »Hure Babylon« beschimpft.
    SLOTERDIJK: Mir gefällt der Begriff »Hintergrundstrahlung« gut, zumal in Anwendung auf kulturelle Strukturen. Was Hintergrundstrahlung kosmologisch bedeutet, darüber mögen Astrophysiker sich den Kopf zerbrechen. Aber daß es auch so etwas gibt wie kulturelle Strahlungen aus einem abgedunkelten Hintergrund – Ordnungsvorgaben, die so im Ältesten verborgen, so sehr im Selbstverständlichen sedimentiert sind, daß sie jeder Reflexion entzogen scheinen – das ist eine Erfahrung, die man gewinnt, wenn man sich auf die mesopotamische Kultur einläßt. Mit ihr betritt man eine Welt, die um vieles älter ist als die des Alten Testaments. Wir wissen nicht mehr, was wir dieser Welt verdanken: Bis auf den heutigen Tag sind wir Benutzer einer Zeitordnungstechnik, die in Babylonien entwickelt wurde. Wir leben mit der größten Selbstverständlichkeit innerhalb der babylonischen Woche, ohne zu bedenken, daß diese eine Theologie der himmlischen Sieben, also eine Art von Septemtheismus zur Voraussetzung hatte. Die siebentägige Woche ist eine Kulturschöpfung, da sie, anders als Tag, Monat und Jahr, keine kosmische Grundlage hat, sondern eine freie Setzung zur Gliederung der sozialen Zeit darstellt.
    OSTEN: Sieben Bilder hat auch die Oper.
    SLOTERDIJK: Jörg Widmann und ich haben mit dieser ominösen Zahl gespielt. Wir bringen ein Planeten-Septett auf die Bühne, für das Widmann sublime Musik geschrieben hat. Wir beleben den babylonischen Karneval mit sieben Affen, die als Orakel-Steller eine Rolle spielen. Wir haben für den babylonischen Karneval sieben Phalli heraufbeschworen und ihre weiblichen Gegenstücke, allesamt drastisch in Überlebensgröße – was dem Theaterpublikum Gelegenheit gibt, Genitalien im Rang von Hilfsgottheiten zu beobachten. Die Regieanweisung gibt vor, daß die Anwesenheit dieser Objekte auf der Bühne eine sakral-feierliche Anmutung auslösen und jede Obszönität ausschließen soll. Kurzum, das Wort »Hintergrundstrahlung« nimmt in diesem Zusammenhang eine alternative Bedeutung an: Es lädt ein zu einer Reflexion über einen unermeßlich erfolgreichen Weltordnungsvorschlag, der uns aus der Kultur zwischen Euphrat und Tigris überliefert worden ist. Die Mittelmeerkulturen haben an die babylonische Sieben angeknüpft, die Juden, die Griechen, die Römer und in ihrem Gefolge alle europäischen Völker.
    OSTEN: Das Alte Testament läßt die Genesis in einer Woche abrollen, als ob sich diese Zeitform auch für den Gott der Juden von selbst verstünde.
    SLOTERDIJK: Ich deute im letzten Bild der Oper an, daß sogar der große Eine, neben dem du keine anderen Götter haben sollst, sich als Untermieter der babylonischen Woche eingerichtet hat. Das ist der Tag, an dem sich Jahwe von der Mühe der Schöpfung erholt.
    OSTEN: Er lebt also umsonst in der babylonischen Woche?
    SLOTERDIJK: Er darf an einem der sieben Tage seinen Sabbat-Frieden feiern, die babylonische Toleranz ist groß genug. Bekanntlich haben die Christen den Gottesruhetag um einen Tag verschoben und ihren Tag des Herrn in die ältere Sonnen-Theologie eingefügt – was man bei dem deutschen und englischen Wochentagsnamen noch hört,

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