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Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)

Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)

Titel: Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
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der Rückkehr nicht bloß 40 Tage auf der Erde, wie der auferstandene Jesus, sondern einen Spielraum von fünfzig Jahren. Er bleibt auch nach dem Wunder ein sterbliches Individuum, das »eines Menschen Zeit« ausschöpft.
    OSTEN: Was heißt das für unsere Vorstellung von Tod und Leben?
    SLOTERDIJK: Die philosophische Pointe liegt auf der Hand: Dasein heißt aus der Ewigkeit zurückkommen. Man muß den Tod hinter sich haben, um wirklich zu leben. Solange man den Tod als Vernichtung auffaßt, die jedem bevorsteht, wird man früher oder später vom Pessimismus verschlungen. Dann wird die Tiamat, das Vernichtungschaos, das hinter uns her ist, am Ende siegen.
    OSTEN: Das erinnert an das Wort der Weimarer Klassik: »DerTod ist nichts anderes als ein Kunstgriff der Natur, viel Leben zu haben.«
    SLOTERDIJK: Man kann den Satz weiter zuspitzen – das habe ich im siebenten Bild der Oper versucht, wo ich die Seele, das Kind und das Regenbogenseptett die Konsequenzen aus dem mythologischen Prozeß Babylons aussprechen lasse. Die menschliche Existenz kann erst verstanden werden, wenn der einzelne sein Guthaben auf der Bank der Ewigkeitsillusionen aufgelöst hat. Um richtig zu leben, muß man aus der Ewigkeit zurückgekehrt sein.
    OSTEN: Vor dieser daseinsbejahenden Rückkehr aus der Ewigkeit steht in Ihrer Babylongeschichte dennoch der Weg durch die Hölle.
    SLOTERDIJK: Dies geschieht im sechsten Bild, in dem Inanna ihre Unterweltsfahrt antritt. Der babylonische Mythos von Inannas Höllenbesuch dürfte das älteste Beispiel einer Unterweltsreise in einer frühen Hochkultur sein. Für Liebhaber der Oper ist das nicht ohne Reiz, weil die Geschichte der Gattung im 17. Jahrhundert dank der Orpheus-Legende mit der Liaison zwischen Musik und Höllenfahrt beginnt.
    OSTEN: Mit einer bedeutenden Differenz, die im Babylon-Libretto eingeführt wird: Um Tammu ans Tageslicht zurückzuführen, muß Inanna den Rückkehrer während des Aufstiegs unentwegt »im Auge behalten« – anders als Orpheus, der sich nicht nach Eurydike umdrehen darf.
    SLOTERDIJK: In der Tat, wir hatten hier etwas richtigzustellen: Es ist am Anfang nicht der singende Mann, der die verstorbene Geliebte aus der Unterwelt heraufholt, es ist die unbeirrt liebende Frau, die den Geliebten zurückfordert. Im Grunde enthält die konventionell erzählte Geschichte von Orpheus und seiner Geliebten eine fatale Botschaft. Sie verrät, warum dem Dichter seine Trauer um Eurydike letztlich lieber ist als die reale Rückkehr der Geliebten. Der Künstler hängt an der melancholischen Position. Die müßte er preisgeben, sollte Eurydike wirklich auferstehen. Darum muß er sich umdrehen, damit sieins Reich der Schatten zurückfällt. Die Dichterliebe ist ohne Dichterlüge nicht zu haben. Wir haben eine alternative Urszene entworfen: Es ist das Frauenauge, das den toten Mann ins Licht zurückträgt. Inanna braucht den Verlust des Geliebten nicht, um schöpferisch zu werden. Man muß sich vor dem alten Lügengespinst hüten, das die Kunst an den Verlust und die Kultur an den Mangel binden will. Gewiß, der Topos von der Erlösung des Mannes durch die Frau ist durch die Romantik suspekt geworden – Gottfried Benn hat über die notorische Erlösungsbedürftigkeit der Männer, bei den Neurotikern im allgemeinen und bei Richard Wagner im besonderen, das Nötige gesagt: Zuerst benehmen sie sich wie die Schweine und dann wollen sie erlöst werden.
    OSTEN: Aber in Babylon liegen die Dinge anders?
    SLOTERDIJK: Das ganze Stück ist ja als ein Revisionsverfahren gegenüber altehrwürdigen Mißverständnissen des Mythos angelegt. Wir stellen die Tatsache heraus, daß die Götter Babylons mit der Sintflut gar nichts zu tun hatten. Wir lesen in den alten Berichten, sie seien auf die Spitzen der Berge geflohen, um zitternd das Ende der Katastrophe abzuwarten. Erst recht hat der Gott Israels mit der Flut nichts zu schaffen – er wird ja erst in nach-exilischer Zeit mit diesen mesopotamischen Erzählungen in Zusammenhang gebracht. Folglich hat er weder die Flut geschickt, noch besitzt er die Kompetenz, zu versprechen, sie werde niemals wiederkehren. Er steht in Wahrheit völlig außerhalb dieser Geschichte – mögen wir sie auch seit 2500 Jahren immer wieder in der falschen Version weitergetragen haben. Worauf es ankommt, ist, daß weder die Götter der Babylonier noch der Gott des Judentums ursächlich mit der Sintflut befaßt waren. Die Flut mitsamt dem furchterregenden astralen Drama war ein

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