Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)
affirmativ-positiven Schluß?
SLOTERDIJK: Warum das glückliche Ende gerechtfertigt ist, bringt man in Erfahrung, wenn man der Frage nachgeht, wieso in der europäischen Musik die Liebe triumphieren soll. Man hat zu bedenken, daß die neuzeitliche Musik seit dem 17. Jahrhundert eine Art Parallelaktion zur Religion und Philosophie dieser Zeit ausführt. Von dieser Zeit an klärt sich die überlieferte Religion selbst mehr und mehr auf – sie durchläuft eine epochale »Entdüsterung«. Sie erträgt ihre eigene alte Dunkelheit nicht länger, sie schüttelt ihren phobokratischen Auftrag ab und wird vom Objekt der Aufklärung zu deren Vehikel – zumindest in ihren besten Aspekten. Ihr latentes Thema ist Weltaufhellung, ihre Mission ist die Ausweitung der Freundlichkeitszone. Mag sein, daß Gott am Anfang der Schrecken aller Schrecken ist, weil er nicht nur die Hölle auf Erden entfesselte, sondern in der Folge auch die höchsten Opfer forderte – dennoch bringt die geläuterte Religion es am Ende so weit, daß sie wieder sagen darf: »Gott ist die Liebe«.
OSTEN: Demnach beruhte die furchtgeprägte Entwicklung des Christentums nach Constantin und Augustinus auf einer ungeheuren Entstellung der schon früher punktuell, insbesondere bei einigen jüdischen Propheten, gewonnenen Einsicht: »Gott ist Liebe«?
SLOTERDIJK: Aufklärung ist eigentlich nichts anderes als der mythenkritische Prozeß, der zur Überwindung des Opferschreckens führt – diese Arbeit am Mythos beginnt früh in der alten Welt. In diese Arbeit klinken wir uns ein. Deswegen habe ich in dem Stück zweimal, im Intermezzo und im Schlußbild, den Schlüsselsatz des Alten Testaments verwendet: »Ich habe Freude an der Liebe und nicht am Blut des Opfers. An der Erkenntnis Gottes habe ich Lust und nicht am Rauch von Feuer.« Widmann meinte, ein solcher Text verlange nach einemunsichtbaren Chor, Männerstimmen in Oktaven, eine Baßlinie und eine Tenorlinie, erhaben, geheimnisvoll, magisch-gutartig. ln die furchtbeherrschte Welt des Zweistromlandes dringt diese Botschaft wie ein Evangelium ein. Das ist Aufklärung in der Tonart des 1. Jahrtausends vor Christus.
OSTEN: Sie schreiben in Ihrem Buch Der ästhetische Imperativ, die neuzeitliche Kunst sei entstanden, als sich am Ende des Mittelalters das Wunderbare vom Wunder emanzipierte. Haben Sie nicht genau das in Ihrem Libretto noch einmal vorgeführt? Warum bezeichnen Sie Ihre Oper als ein Märchen?
SLOTERDIJK: Was die Gattungsbezeichnung angeht, so gibt es zwischen Jörg Widmann und mir fast von Beginn an einen Dissens, den wir aller Voraussicht nach salomonisch lösen werden, indem wir beide recht bekommen. Er möchte das Unternehmen Babylon ohne Umschweife eine »Oper in sieben Bildern« nennen. Und recht hat er, denn wenn es in jüngerer Zeit ein Musikwerk vom Typus Oper gegeben hat, mit allem, was zu dieser im Unwahrscheinlichen behausten Gattung gehört, dann ist Babylon eine Oper, von der ersten bis zur letzten Note. Was mich angeht, würde ich in der Gattungsbezeichnung gern etwas deutlicher auf den fantastischen Apparat der Bühne hinweisen. Widmanns Position ist klar. Was er komponiert hat, ist die große Oper. Was ich geschrieben habe, ist ein Libretto für ein opernartiges Mirabile, eine Geschichte, die zeigt, wie das Wunderbare auf einer technisch kompetenten großen Bühne den Vortritt vor dem Wunder erlangt. Schikaneder zum Beispiel bezeichnete seine Zauberflöte ungeniert als »Maschinenmärchen«. Dieser Gattungsname verrät, daß man im späten 18. Jahrhundert keine Hemmung hatte, die Maschine als Dienerin des Wunderbaren zu denken. Schon die Zauberflöte gehört ins Zeitalter der Spezialeffekte.
OSTEN: Solche ereignen sich denn auch am Ende Ihres Librettos im sechsten und siebenten Bild reichlich. Das Wunderbare, da gelingt es. Es gelingt, weil der Tod eine Ausnahme macht. Und es gelingt, da die Seele, die anfangs die große Verliererin zu sein scheint, über die Verlustposition hinausgelangt, sich zuletzt von der melancholischen Position löst und sich in eine Sonne verwandelt.
SLOTERDIJK: Das Wunderbare eröffnet den Ausnahmezustand. An der entscheidenden Stelle sagt der Tod: »Die Ausnahme, du sollst sie haben!«
OSTEN: Im Gemüt des Todes bricht plötzlich ein produktiver Wahnsinn auf, ein Schwanken, aus dem das Erstaunliche entspringt. Nichtsdestoweniger lassen Sie im Vorspiel zur Handlung und in einem Epilog die beunruhigende Figur des Skorpionmenschen auftreten, der vor dem
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