Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)
externes kosmologisches Ereignis, das in der Folge mit den Mitteln der Religion internalisiert und in die Sprache der Schuld und der Opferpflicht übersetzt worden ist. Was das Gefühl von Schuldigkeit angeht, scheint der Mensch schon im vorantiken Zweistromland hierfür empfindlich gewesen zu sein.
OSTEN: Also existierte auch dort schon der Zusammenhang von Schuld, Opfer und Passionsbereitschaft. Das hat die Babylonier auch zu Opferhandlungen disponiert, bis hin zum Menschenopfer.
SLOTERDIJK: Diese Menschen hatten, wenn nicht alles täuscht, ein unerhörtes Talent, sich schuldig zu fühlen – selbst für Dinge, für die sie nichts konnten. Sollte die Feststellung dieser Neigung bei einem Volk ein Kompliment sein, kann man es an die Babylonier weitergeben, und wenn es ein Vorwurf ist, müssen ihn sich auch die Babylonier gefallen lassen. Schon bei ihnen ist eine Disposition zur Überschuldigkeit zu beobachten. Ich habe mir daher – weil in Babylon ja so viel vorweggenommen wird, was später »religiös« Geschichte machte – die Freiheit erlaubt, auch das Vater-Sohn-Verhältnis, das wir aus der christlichen Trinität kennen, nach Babylon zurückzudatieren. Ich habe den Priesterkönig so gezeichnet, daß er, ganz wie der Vater der Trinität, das Liebste opfert, seinen Sohn, im gegebenen Fall den jungen Freund aus dem jüdischen Gastvolk, um die Wiederholung des Schlimmsten zu bannen.
OSTEN: Sie verhandeln dann aber auch die Aufhebung des Menschenopfers, was ein ungeheuerlicher kultureller Schritt in der Menschheitsentwicklung war. Den leiten sie aus einer einfachen kosmologischen Deutung des Geschehens her.
SLOTERDIJK: Wenn die Götter gar nicht involviert waren, können sie auch kein Interesse an beschwörenden Opfern zur Vermeidung einer Wiederholung haben. Der Himmel – kosmologisch und meteorologisch verstanden – bildet eine Größe abseits der göttlichen Macht. Weil Gott und Götter die Sintflut nicht bewirkt haben, braucht man sie nicht länger um Verschonung vor einer zweiten Flut anzuflehen. Die Götter haben mit dem kosmischen Debakel nichts zu tun. Folglich gäbe es nach dem Ende der Flut auch keinen Grund für einen neuen Bund zwischen Gott und den Menschen. Was in aller Welt können die Menschen der Überwelt schuldig sein, da sie doch einer Wirklichkeit ausgesetzt sind, in der ein maximaler Schreckenwie die Sintflut geschehen konnte? Der nach der Flut am Himmel stehende Regenbogen bedeutet nicht, daß Gott, nachdem er seinen Zorn über das sündige Pack ausgetobt hat, wieder zur Besinnung gekommen wäre, wie es die biblische Erzählung suggeriert. Wenn man schon ein Symbol aus dem Regenbogen machen will, steht er dafür, daß die Menschen nach dem Schlimmsten den Lebensmut wiederfinden. Er regt sie an, sich gegen das blinde Schicksal zu verbünden.
OSTEN: Eine Sintflut kann immer wieder kommen, heißt es in Ihrem Libretto aber auch. Und: Der alte Regenbogen hat ausgedient. Das entspricht Nietzsches Einsicht aus der Fröhlichen Wissenschaft, wonach wir lernen müssen, »gefährlich zu leben«. Nur das zugespitzte Bewußtsein der Endlichkeit hält Menschen wach.
SLOTERDIJK: Tammu drückt das expressis verbis aus: Die Flut ist nie vorüber. Wir müssen uns an den Gedanken gewöhnen, daß das Leben immer in Gefahr ist. Die Möglichkeit der Kürze gehört dazu. Es geht stets um die Bestimmung der nach-sintflutlichen Situation. Gibt es geglücktes Leben nach der Katastrophe?
OSTEN: Der »maximale Schrecken« – ein Schlüsselbegriff, nicht nur des Opernprojekts, sondern auch der allgemeinen Religionstheorie. Begründen die historischen Religionen nicht ihre Macht letztlich durch ihr Insistieren auf der Furcht? Ich lese Ihr Libretto so, als hätten Sie der religiösen Phobokratie noch einmal eine förmliche Absage erteilen wollen. Am Ende siegt, sehr operngemäß, in Ihrem Stück die Liebe über die Furcht – womit zugleich das Ende der Religion als Furchtherrschaft bezeichnet ist.
SLOTERDIJK: Sie sagen zu Recht: operngemäß. Die moderne Operngeschichte beginnt bekanntlich mit dem Orpheus-Mythos – von Monteverdi bis Gluck sind viele Komponisten der Faszination des Stoffs erlegen. Bei Gluck endet die Handlung mit einem Triumph der Liebe – gegen den Wortlaut des Mythos, nach dem Eurydike erneut verlorengeht. Wir stellen dieorphische Szenerie nach, indem wir sie mit verändertem Personal noch einmal ablaufen lassen.
OSTEN: Der Sieg der Liebe liefert also auch für Ihre Oper einen
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