Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)
Hintergrund einer verwüsteten antiken Stadt Unheil verkündet. Was hat es mit dieser rätselhaften Gestalt auf sich?
SLOTERDIJK: Ich greife diese Figur aus dem Gilgamesch-Epos auf, um das Eindringen der skeptischen Position in die mythische Welt zu bezeichnen, eine Welt, in der es zunächst nur positive Kräfte und Affirmationen gibt, doch keinen Zweifel, keine Distanz von Ritual und Tradition, keine problematische Innenwelt. Mit dem Auftritt des Skorpionmenschen werden die Möglichkeiten des reflektierenden Lebens aktualisiert.
OSTEN: In Ihrem Essay La Musique retrouvée deuten Sie an, die Musik sei die wirkliche Religion der Moderne. Sie ist das Medium eines positiven Weltbezugs, der sich gleichwohl den Rufen aus der Tiefe nicht verweigert.
SLOTERDIJK: Daß bedeutende Musik immer auch mit dem Wiederfinden einer verlorenen Musik zu tun hat – das ist die psycho-akustische These, die ich vor vielen Jahren in einem anderen Kontext entwickelt habe. Große Musik, wie sie in Europa seit dem 17. Jahrhundert aufblühte, impliziert die Reibung zwischen dem schon Gehörten und dem Unerhörten. Das abenteuerliche Ohr will sich auf das Hören des Neuen einlassen, zugleich ist es auf der Suche nach einem verlorenen Klang. Sobald man das weiß, hält man eine simple Richtlinie in der Hand für das, was ein modernes Libretto leisten sollte. Es soll dem Komponisten die Gelegenheit bieten, die Auseinandersetzung zwischen dem schon Gehörten und dem noch nicht Gehörten, zwischen bekannter Musik und Neuer Musik, auf seine Weise auszutragen. Mir scheint, die Kooperation zwischen Jörg Widmann und mir hat diese Annahme bestätigt. Sollte ich unsere Zusammenarbeit charakterisieren, würde ich sagen, sie war so etwas wie konzeptionelle Kammermusik. Von der Utopie des Aufeinanderhörens, denke ich, wissen wir beide jetzt mehr als zuvor.
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[ 33 ] Dieses Gespräch zwischen Peter Sloterdijk und Manfred Osten erschien unter dem Titel »Im Hintergrund summt Babylon« in: Max Joseph. Magazin der Bayerischen Staatsoper (1/2012/2013, S. 32-40).
Manfred Osten ist ein deutscher Autor, Jurist und Kunsthistoriker.
Bernhard Klein
Editorische Notiz
Michel de Montaigne: Die fruchtbarste und natürlichste Übung unseres Geistes sind nach meiner Meinung Gespräch und Diskussion. [ 34 ]
Friedrich Nietzsche: Beim Zwiegespräch giebt es nur eine einzige Strahlenbrechung des Gedankens: diese bringt der Mitunterredner hervor, als der Spiegel, in welchem wir unsere Gedanken möglichst schön wiedererblicken wollen . [ 35 ]
Peter Sloterdijk: So paradox es klingen mag – diese Verdoppelung des Ichs in das suchende und das gesuchte, das fragende und das antwortende, das gegenwärtige und das kommende Selbst gehören unvermeidlich zur Struktur einer passionierten existentiellen Wahrheitssuche. [ 36 ]
Peter Sloterdijks dialogische Tätigkeit spielt sich auf vielen Podien der Öffentlichkeit ab. Er gab Hunderte von Interviews in der inländischen und ausländischen Presse, unter anderem in Deutschland, Österreich, der Schweiz, Frankreich, Holland, Italien, England, Polen und den USA . Seine Interviews machen einen wichtigen Teil seiner Arbeit eines öffentlichen Intellektuellen – eines philosophes – aus. Er ist jemand, der die Aufmerksamkeit nicht scheut, jeglichem Sendekanal zur Distribution seiner Gedanken aufgeschlossen ist und ihn auch nutzt (vom ubiquitären bis hin zum entlegenen Medium): Radio, Fernsehen, Internet, (Fach-)Zeitschriften, Zeitungen, Konferenzsammelbände, Ausstellungskataloge, Werbebroschüren und Verlagsbeilagen.
Auch der Herausgeber mußte manchmal unerwartet lange Wege gehen zum Exkavieren einiger Quellen. Er fand sich etwa wieder im Luftschutzkeller des evangelischen Pressearchivs der Universitätsbibliothek München.
Sloterdijk beschreibt das Interview als hochartifizielle Form der Rhetorik, die erst veredelt und zugespitzt werden muß, bevor sie an die Öffentlichkeit gelangt:
Ich glaube, das Interview ist eine Spezialentwicklung, die sich aus der Figur der rhetorischen Frage heraus entwickelt hat. Die rhetorische Frage ist seit den Tagen der antiken Redekunst eine Frage, die sich ein Redner selber stellt und sie dann auch in der Regel selber beantwortet. In der Moderne hat man das nur in der Weise noch verändert, daß man die rhetorische Frage und die rhetorische Antwort über zwei verschiedene Personen verteilt .
(…) Es ist meistens dann gelungen, wenn beide Seiten es genügend überarbeitet haben, das
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