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Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)

Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)

Titel: Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
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Äußerungen oft wahrnimmt, ob man ihn nun jugendlich nennt oder nicht. Die Explosion Ihres Ausdruckstriebs setzte nach Ihrem Indienaufenthalt im Frühjahr 1980 ein. Kann es sein, daß damals, nach Indien, eine gleichsam archaische vorsprachliche Begeisterung mit den späteren akademischen Prägungen zusammenkam? Wahrscheinlich ist Ihnen diese Frage schon öfter gestellt worden. Ich finde es faszinierend, daß es danach für Sie kein Zurück mehr zu geben schien. Mit einem Mal war nur der Weg zur Produktivität noch offen.
    SLOTERDIJK: Sagen wir eher der Weg zur praktischen Prüfung eines Vorgefühls. Mir war bis dahin wohl latent bewußt, daß ich wie hinter vorgehaltener Hand lebte. Nach 1980 war es soweit, daß ich anfangen konnte, mich weiter vorzuwagen. Damals habe ich meinen Ton gefunden, falls man das so unbedarft ausdrücken kann. Es war, als hätte ich das Instrument entdeckt, auf dem ich meine Art von Musik machen sollte. Das Instrument wurde gestimmt in dem Moment, als ich begriff, worin meine Chance besteht.
    KLEIN: Das möchte man natürlich näher erklärt haben.
    SLOTERDIJK: Lassen Sie mich's versuchen. 1947 geboren, blieb ich ein von der Vaterseite her so gut wie völlig ungeprägter junger Mann. Zur rechten Zeit sah ich ein, ich sollte mich zu einer Art von Selbstbevaterung entschließen. Was Bemutterung ist, vorgefunden oder gewählt, und wie man sie allmählich zurückläßt, das wußte ich schon ziemlich gut. Was Bevaterung bedeutet, wußte ich nicht. Ich mußte mir meine Väter oder Instruktoren zusammensuchen, dazu war es nötig, sich in der Welt umzusehen. Väter sind Vorbilder, nicht wahr, die man aufsucht, um etwas zum Überwinden zu haben, irgendwann später? So machte ich mich am Leitfaden der Bewunderung auf den Weg. Niemand, der etwas zu sagen hatte, war vor meiner Bewunderung sicher – auch nicht vor meiner Enttäuschung. Der Durchbruch kam, als ich verstand, daß ich mir selber die Welt erzählen sollte. In meinem Fall konnte das nur dadurch geschehen, daß ich mich selber an die Hand nahm –als Lehrer und Schüler in einer Person. Irgendwie gelang es mir, mich in einen größeren und einen kleineren Part zu verdoppeln. Also habe ich mich selber an die Hand genommen und mir die Welt und das Leben erklärt. Offensichtlich hat das vielen Beobachtern eingeleuchtet, die gerne mitlasen, was ich mir zu sagen hatte. Sie amüsierten sich wohl darüber, wie ich dem Junior zuliebe in die Rolle des alten Weisen schlüpfte. Ich denke noch immer, dieses Vorgehen war nicht die schlechteste Zugangsweise zur philosophischen Sphäre. Sie empfahl sich in meinem Fall besonders, sie entsprach der Lage eines jungen Menschen, der wie so viele aus seiner Generation mit dem Gefühl starker kultureller Unsicherheit aufgewachsen war.
    KLEIN: Was trieb Sie nach der Dissertation bei den Hamburger Professoren gen Osten? Was haben Sie von Bhagwan Shree Rajneesh bzw. Osho gelernt? Warum sind Sie damals nach Indien gegangen und nicht an der Universität geblieben?
    SLOTERDIJK: Das ist eine längere Geschichte, ich kann den Ablauf nur kurz andeuten. Ich bekam um 1974 zeitweilig eine Vertretungsassistentenstelle an der Hamburger Universität angeboten, ich akzeptierte und übersiedelte. Das folgende Jahr in Hamburg wurde für mich eine sehr fruchtbare Zeit, ein Wendejahr in meinem Leben. Die damalige Nähe zu Klaus Briegleb, dem Ordinarius für neuere deutsche Literatur, war für mich ein Glücksfall, ich kannte ihn aus München, er war in meinen Augen, und nicht nur in meinen, der herausragende Literaturwissenschaftler des Landes und in den Hamburger Jahren auf der Höhe seiner Kunst. Und genauso glücklich war die Konstellation mit den älteren Kommilitonen, ein intellektueller Spiralnebel mit enormen Ladungen, auch gruppenerotisch nicht uninteressant. Was die Universität anging, wußte ich von da an, das ist nicht mein Maulwurfshügel. Als mein Vertrag auslief, bin ich nach München zurückgegangen. Anschließend begannen die wilderen Gruppenjahre: Wohngemeinschaft, Psychotherapie, Meditationsgruppen, Neue Linke, Neuer Mensch. Ständig spukten solche Motive durch den Raum. Man glaubtedamals an die Theorie wie an eine messianische Kraft. Die Zeit zwischen 1974 und 1980 wurde die Experimentierphase meines Lebens. Die Dissertation war geschrieben, viele Möglichkeiten standen offen, das einzige, was ich eindeutig wußte, war, daß ich in die Universität nicht zurückgehe. Sollte es ein Leiden an der Unbestimmtheit

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