Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)
geben, so war es mir damals unbekannt. Ich empfand die Freiheit, noch einige Orientierungsjahre vor mir zu haben, als beflügelnde Nichtfestlegung.
KLEIN: Das erklärt aber nicht, wie es es kam, daß Sie den Weg nach Indien einschlugen.
SLOTERDIJK: Die Indienreise war seit den Tagen des seligen Hermann Hesse im spirituellen Curriculum des Westens diskret vorgezeichnet. Auch wenn man Marx und Lenin und Marcuse gelesen hatte, die Morgenlandfahrt fehlte. Eines Tages war sie fällig, in ihr kam alles zusammen, was damals zählte, der therapeutische Aufbruch, der spirituelle Aufbruch, der Counter-Culture-Aufbruch, außerdem stand über dem Unternehmen das Epochenthema »freie Liebe« wie eine Leuchtreklame am Times Square. Man hätte ein Idiot sein müssen, es nicht zu probieren. Überdies traf man in Indien halb Frankfurt wieder, und halb München. Meine besten Adorno-Kolloquien erlebte ich am Rand des Ashrams von Poona. Es begann eine unvorstellbar intensive Zeit, weil man in Indien nur Menschen begegnete, die auf ihre Weise mutig waren, offensiv, konfrontativ, freigiebig mit Gefühlen, Beobachtungen und Berührungen. Heute wird das Klima vor allem vom Bedürfnis nach Absicherung definiert, das kannte man seinerzeit nicht. Natürlich waren damals alle verrückt, das kann man im Rückblick nüchtern feststellen, doch daß sie mutig waren bis zum Exzeß, muß man ihnen lassen. Nach Indien zu gehen zu den Bedingungen jener Jahre, das war wirklich ein Sprung, ein Bruch mit der Hintergrundkultur.
KLEIN: Wenn man alte Videos einlegt, in denen die Augen von Osho dich anblicken, dann schwingt noch heute eine Dimension jenseits der europäischen Akademia mit. Wie kam es,daß dieser Guru zu der damaligen Zeit eine so große Rolle spielte?
SLOTERDIJK: Inzwischen spielt er für mich keine Rolle mehr, eine distanzierte Dankbarkeit abgerechnet. Man muß bedenken, ich gehöre zu denen, die aus dem Osten zurückgekommen sind, um hier zu bleiben. Verändert war ich wohl, aber nicht verindert. Im Gegenteil, ich wurde seither erst ganz bewußt zum Europäer. Die Impulse von dort habe ich in mein Leben eingebaut, diskret. Sie sind jetzt nur noch in verwandelter Gestalt präsent, als leise Schwingungskomponenten.
KLEIN: Sie leben seitdem »unter einem helleren Himmel«?
SLOTERDIJK: So habe ich das wohl einmal ausgedrückt. Nach der Rückkehr aus Indien habe ich eine Privatmeteorologie entwickelt. Ich fühlte mich vom Wetterbericht für Mitteleuropa nicht mehr persönlich betroffen.
KLEIN: Könnten Sie denn erklären, wie man in die Region unter dem helleren Himmel gelangt? Gibt es eine Wegbeschreibung für Menschen, die in Krisen stecken und auf der Suche sind nach inneren Kräften?
SLOTERDIJK: Ich will jetzt keinen Besinnungsaufsatz über die Verschränkung von Individuum und Gesellschaft schreiben, es dürfte aber evident sein, daß die Aufhellung des Weltgefühls mit einer Veränderung des Modus von Vergesellschaftung zu tun hat. Arthur Koestler hat am Ende des Zweiten Weltkriegs einen luziden Essay veröffentlicht, »Der Yogi oder der Kommissar«, in dem er die beiden basalen Antworten des 20. Jahrhunderts auf das Weltelend einander typologisch gegenüberstellte, die Antwort des Yogi, der den Weg nach innen wählt, ohne nach äußeren Voraussetzungen zu fragen, und die Antwort des Kommissars, der nie müde wird, die These zu wiederholen, erst müßten die sozialen Strukturen völlig verändert sein, ehe man an die Emanzipation der Einzelnen denken könne. Gegen Ende der siebziger Jahre, als die sozialrevolutionären Illusionen des Jahrzehnts davor Schiffbruch erlitten hatten, stand eine Lücke offen, die für die Yogi-Option neue Spielräume bot.Daran können sich die meisten heutigen Zeitgenossen nicht mehr erinnern. Wir erleben gegenwärtig wieder eine Ära der Kommissare, obschon nicht mehr solcher vom Schlag der Kommunisten, die Koestler vor Augen hatte. Die jetzigen Akteure des Sozialdemokratismus sind überzeugt, alle Übel des Lebens seien durch die Ausweitung der Staatszone zu kurieren. Der Absolutismus des Sozialen sickert wieder bis in die kleinsten Ritzen. Mit der klassisch indischen Weltauffassung ist der Kommissars-Ansatz nicht kompatibel. Dort neigt man zu der Ansicht, daß zwar jedes Individuum das Potential zu einer Revolution in sich trägt, jedoch zu einer Revolution in der ersten Person. Mit dieser unverzollten Instruktion im Gepäck bin ich aus Indien nach Europa zurückgekehrt, ich habe sie nie ganz
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