Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)
gestört werden. Heute kommt mir das seltsam vor, da die Irritierbarkeit zugenommen hat. Auch durch das Telefon war ich nicht zu stören, ebensowenig durch Handwerker und Zeugen Jehovas. Ich sah in allem Anregung, nicht Unterbrechung. Ein wundertätiger Aberglaube war am Werk: Was auch immer kommt, verwandelt sich auf der Stelle in einen Teil der Produktion. In jener mittleren Phase lebte ich wie unter einer Schutzhülle, ich war meiner Themen sicher oder die Themen waren sich meiner sicher. Ich war durch nichts aus der Spur zu bringen.
KLEIN: Wenn man »Wehrlosigkeit« hört, könnte man auch an Müdigkeit und Aufgeben denken. Diese Option haben Sie offensichtlich ständig durch die Kreativität des Schreibens aus dem Weg geräumt.
SLOTERDIJK: Alte Arbeitstiere wissen, selbst Müdigkeit kann zu einer Antriebsenergie werden, sofern sie die Regenerationauslöst. Sobald man sich nur einmal richtig ausgeruht hat, sagen wir mal einen ganzen Tag lang, fühlt es sich an, als hätte man Schwung geholt für drei neue Leben. Früher habe ich den Unterschied zwischen Regeneration und Urlaub betont. Letzterer war in meiner Sicht illegitim, es durfte ihn nach meiner Ansicht gar nicht geben. Hochmütig ausgedrückt: Urlaub braucht man nur vom falschen Leben. In diesem Punkt denke ich heute anders, ich gebe die Berechtigung des Urlaubs allmählich zu.
KLEIN: Lassen Sie mich noch einmal zu Ihren Interviews zurückkommen. Aus aktuellem Anlaß steht der Suhrkamp Verlag, dem Sie seit Ihrem ersten Buch vor dreißig Jahren angehören, in den Schlagzeilen. Es gab bei Suhrkamp eine Zeit, da wäre es seinen Autoren ein Gräuel gewesen, in einem Springer-Blatt zu publizieren. Sie aber publizieren praktisch in jedem Medium, das auf Sie zukommt, fast wahllos, möchte man meinen, einmal sogar in der Bild -Zeitung und im Playboy . Wie beurteilen Sie sich selbst in diesen Zusammenhängen? Der Suhrkamp-Autor, wie hat er sich verändert seit jenen Jahren, in denen es undenkbar war, in Zeitungen der Springer-Presse Interviews zu geben?
SLOTERDIJK: Eines ist sicher, den typischen Suhrkamp-Autor gibt es heute nicht mehr, falls er je existierte. Schon früher waren es sehr idiosynkratische Charaktere, die unter demselben Dach zusammenkamen. Was sollten Bloch und Beckett miteinander gemeinsam gehabt haben? Oder Hesse und Luhmann? Die Diversität hat inzwischen eher noch zugenommen. Einige wenige Kollegen sind allerdings weiter Suhrkamp-Autoren im Sinn der sechziger oder siebziger Jahre geblieben, sie verkörpern mildere Positionen des Zu-Spätmarxismus. Daß auch sie Kinder des Zeitgeists sind, sieht man daran, wie sie fast unmerklich vom Thema Utopie aufs Thema Gerechtigkeit umgestellt haben – darin leben Reste der Frankfurter Ziviltheologie nach. Dagegen sind viele neue Temperamente im Spektrum aufgetaucht, auf der literarischen wie auf der wissenschaftlichenSeite. Der Erfolg meines ersten Buchs 1983 war ein Signal dafür, daß die Musik künftig auch anderswo spielt. Warum nicht in bisherigen Tabu-Medien? Für die überlieferten Aversionen habe ich mich mit der Zeit immer weniger interessiert. Ich bin Gesprächspartnern aus den politisch heterogensten Medien ohne ideologiekritische Hintergedanken und wenn möglich auf Augenhöhe begegnet, ausgenommen die Presse der neo-nationalistischen Tendenz – hier kam dann doch die Prägung durch das Herkunftsmilieu zum Tragen. Vielleicht hätte ich auch diese Hemmung ablegen und gelegentliche Hausbesuche bei den rechtsaußen verirrten Seelen machen sollen.
KLEIN: Viele von diesen Gesprächen knüpfen an Ihren jeweils aktuellen Publikationen an, andere gehen von Themen aus, die zur gegebenen Zeit in der Luft lagen. Haben Sie Gespräche in Erinnerung, die sich besonders einprägt haben?
SLOTERDIJK: Die meisten in unserem Band dokumentierten Gespräche und Interviews liegen so weit zurück, daß ich mich an die Situationen, in denen sie geführt wurden, nicht erinnern kann, bestenfalls diffus. Sehr lebhaft sind mir die Umstände gegenwärtig, unter denen das breit angelegte Doppel-Gespräch mit dem Leiter des Deutschen Literaturarchivs, Ulrich Raulff, über das Motiv »Schicksal« stattgefunden hat – vor etwa zwei Jahren, das erste hier in Karlsruhe, das zweite in Marbach, wo Raulff mir als Hausherr und als Hüter seiner Schätze gegenübersaß. Das waren Momente puren intellektuellen Glücks. In solchen Augenblicken begreift man deutlicher als sonst, was Literatur sein kann, auch als gesprochenes
Weitere Kostenlose Bücher