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Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)

Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)

Titel: Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
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Wort. Sie ist eine syntaktische Glückstechnik. Mit der nicht-alltäglichen Zusammenfügung von zwei, drei Wörtern beginnt die Levitation.
    KLEIN: Das vorliegende Buch ist ein Florilegium von pointierten Formulierungen. Man hat den Eindruck, für Sie ist der Dialog auch immer ein Metalog. In dem kommen und gehen viele Stimmen. Der äußeren Form nach sind die Interviews Zwiegespräche, doch kommt es mir vor, als fühlten Sie sich im Gespräch mit mehreren Partnern am wohlsten.
    SLOTERDIJK: Ich erlebe schon das Zwiegespräch als Polylog, das heißt als Gespräch mit vielen. Der gute Interviewpartner bringt ja außer seiner eigenen Stimme in der Regel alle möglichen anderen Stimmen mit. Er ist schon selber eine akkordische Subjektivität. Die erzeugt beim Befragten unweigerlich Resonanzen. Wenn etwas existiert, was mir überhaupt nicht liegt, so ist es Phrasen-Austausch im Verlautbarungston.
    KLEIN: Es gibt in diesem Buch garantiert keine Stelle, von der man sagen könnte, es würden Phrasen verlautbart.
    SLOTERDIJK: Vielleicht kann ich Ihnen erklären, woher meine Abneigung gegen die Phrase kommt. Seit jeher leide ich unter einer kindlichen Furcht vor Langeweile. Am langweiligsten schien mir seit jeher das Reden in fertigen Sätzen, wie man sie auf dem akademischen Diskursmarkt hört, um von den Preß-Spanplatten vom politischen Baumarkt zu schweigen. Damit wir uns nicht mißverstehen, ich kenne eine gute Langeweile, die beruhigt und integriert. Man kann sich ihr anvertrauen wie einer alten Erzieherin – ich denke an die subtile Langeweile einer Landschaft, die befreiende Langeweile des Meeres, die erhabene Langeweile des Gebirges und manchmal die geduldfördernde Langeweile großer Erzählliteratur. Eine bösartige Langeweile geht von der zudringlichen Borniertheit stolzer Phrasenbesitzer aus, sie ist wirklich so tödlich wie ihr nachgesagt wird. Ich weiß nicht, ob Sie solche Situationen kennen: Man wechselt ein paar Worte mit einem Menschen, der dir nicht einmal a priori unsympathisch sein muß. Nach drei, vier ausgetauschten Sätzen fühlst du dich lebensmüde. Es ist, als ob die vitale Batterie binnen Sekunden entleert worden wäre, und du weißt nicht warum. Vor dieser Art von Langeweile schrecke ich zurück wie vor Tod und Teufel, sie ist ein pathologischer Zustand, in dem die Freude am Gespräch, am Meinungsausdruck, am Etwas-sehen-und-sagen-Können, ja am Leben überhaupt verloren geht. Das Symptom der schlimmen Langeweile ist der Sprachzusammenbruch. Mit einem Mal wollen die Wörter nicht mehr in der richtigen Reihenfolge herauskommen, duschaffst gerade noch ein Nomen, aber das Verbum folgt nicht mehr, ein fürchterliches Gefühl von Nichts-mehr-sagen-Wollen greift um sich – was man auf keinen Fall mit dem guten Zustand des freien Nichts-zu-sagen-Habens verwechseln darf. Ich nähere mich manchmal diesem gefährlichen Punkt, wenn ich merke, daß ein Gesprächspartner völlig ausgelaugte Fragen aus dem Koffer holt, Fragen, die ihrem Wesen nach Verdummungsangebote sind. Deren Subtext lautet immer: Komm endlich mit ins Elend! Unter großen Anstrengungen habe ich gelernt, solchen Attacken auszuweichen, indem ich die Frage umformuliere, bis ich wieder Lust habe, auf sie zu reagieren.
    KLEIN: Es gibt also Fragen, die den Befragten wie Vampire aussaugen?
    SLOTERDIJK: Es gibt solche Fragen und solche Fragende. In theosophischen Kreisen nannte man negativ geladene Leute dieser Art prana suckers, Lebensatemvampire. Manchmal ist die mentale Erschöpfung der Fragesteller von Anfang an deutlich. Im besten Fall versuche ich dann, wie ein Animateur zu antworten oder wie der Notarzt.
    KLEIN: Ich bin absolut sicher, daß es in diesem Buch kein Gespräch gibt, in dem Sie den Notarzt spielen mußten, und an Sprachzusammenbruch wird niemand denken, der diese Stücke liest. Hingegen frage ich mich, ob nicht hin und wieder beim Gegenüber eine Art Respekt, um nicht Ehrfurcht zu sagen, zu spüren ist.
    SLOTERDIJK: Wenn das je der Fall war, wäre es falsch gewesen, dabei stehenzubleiben. Gespräche vor der Öffentlichkeit sind eine Sportart, bei der es nicht darum geht, zu gewinnen, sondern auf höherer Ebene unentschieden zu spielen. In jedem besseren Frage-Antwort-Fluß erinnern sich die Gesprächspartner gegenseitig an ihre intelligenteren Möglichkeiten. Man entdeckt die Freude, navigationsfähig zu sein in einem Problemraum.
    KLEIN: Ich möchte noch einmal auf den Enthusiasmus zu sprechen kommen, den man in Ihren

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