Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)
diesen Besetzungen das richtige Casting betreiben, geht's ihnen besser. Bei der Besetzung der Zwillingsrolle, des wesentlichen inneren anderen, entscheiden sie über das, was aus ihnen selber wird. Ständige Fehlbesetzungen an dieser Stelle, ständige Unterbesetzungen dieser Position, führen zu menschlichen Verkümmerungen. Man kann natürlich diese Rolle auch mit einem Dackel besetzen, sogar mit einer Whiskeyflasche; vom leblosen Ding bis hin zum Gott des heiligen Augustinus, kann man diese Position mit eigentlich fast jeder Größe ausfüllen. Je nachdem, wer dort als Gegenüber gewählt worden ist, in Resonanz darauf bildet sich das eigene Selbst. Das halte ich für ein Grundgeheimnis des psychologischen Feldes, diese Resonanznatur zwischen einem Individuum und seinem Zwilling/Zweiling. So wie diese Resonanz ausfällt, gelingt oder mißlingt die Existenz der Person. Mir scheint, das ganze therapeutische Feld läßt sich gut rekonstruieren von einer solchen Beschreibung her. Der Therapeut ist eine optionale Besetzung dieser freien Position. Wenn er das gut macht, wenn er sich für eine Weile als ein hinreichend guter Zwilling benimmt, das heißt, wenn er diskret und fördernd genug ist, dann gedeiht das Subjekt.
Frischknecht: Du hast vor kurzem dafür plädiert, die sogenannte Sektenfrage neu aufzugreifen und dieses Thema unter anderen Vorzeichen zu diskutieren. Derzeit wird darüber ja nur verschreckt im Hinblick auf leicht zu verführende Massen und die nahende Jahrtausendwende geredet. Was für Gesichtspunkte gehen dabei deiner Meinung nach verloren?
Sloterdijk: Vor allen Dingen wird vergessen, daß eigentlich alle guten menschlichen Gruppen Sekten sind. Der Sektenbegriff ist zur Zeit leider in die dunkle Ecke abgedrängt worden. Das hat damit zu tun, daß wir im Moment keine ideologischen Gegner mehr haben. Unsere Gesellschaft kann keine Sozialisten, Kommunisten und Anarchisten mehr jagen, diese Gruppen sind alle entweder brav oder stumm geworden. Wen soll man da noch jagen? Es bleiben nur noch Terroristen und Sektierer, also Leute, die körperlich oder seelisch Bomben werfen.
Die Diskussion, wie sie heute geführt wird, sagt mehr aus über das gesamte ideologische Feld als über die einzelnen Gruppierungen. Selbstverständlich gibt es ganz abscheuliche Gruppierungen, deren Angehörige man unter allen Aspekten bedauern muß. Doch der Blick auf diese Gruppen trägt zur Aufklärung des Sektenproblems für die Gesellschaft im ganzen sehr wenig bei.
Gewiß gibt es manifest kriminelle Vereinigungen, und man beobachtet sehr unangenehme Tendenzen zu einer Art von Psychosklaverei. Aber das ändert nichts daran, daß wenn immer Menschen sich zusammentun, wenn sie einen Verein bilden; oder sagen wir, wenn sie ein Liebespaar bilden, daß sie dann Dinge tun, die den anderen Leuten nicht gefallen können. Erstens, weil sie nicht zur Teilnahme eingeladen sind, und zweitens, weil die Außenstehenden sich vorstellen, daß im Inneren dieser Vereinigungen Temperaturen herrschen, die man außen entbehrt. Man hat das Gefühl, diese Sektierer leisteten sich ein Leben in den psychologischen Tropen, während wir anständigen Alpenrandbewohner uns auf Permafrost mit kurzem Sommer eingerichtet haben. Darin liegt eine Provokation, die ständig zur Unruhe führt. Darüber hinaus beantworten Sektenführer für ihre Anhänger die Sinnfrage auf eine so schamlose Weise, daß der Nicht-Sektierer darüber auch nicht amüsiert sein kann.
Ich deute Sekten als Ersatzformen für die Großfamilie. Als solche haben sie zunächst und zumeist sehr gute Funktionen, dieselben wie kirchliche Gemeinden sie immer gehabt haben.Und weil Sekten eben solche psychischen Brutkästen sind, laufen sie Gefahr zu überhitzen. Wenn das geschieht, wirken sie auf ihre Mitglieder nicht mehr begünstigend, sondern machen sie abhängig von dieser Begünstigung.
Solche Abhängigkeit fällt unter einen erweiterten Drogenbegriff. Der typische Sektenführer hat das Verhalten eines Dealers: Er nimmt von den Leuten mehr, als er ihnen gibt. Das ist übrigens auch die Definition eines durchschnittlichen Geschäftsmannes und überhaupt eines jeden Kapitalbewußten, für den ja selbstverständlich ist, mehr zu nehmen als zu geben. In der psychischen Bewirtschaftung wird diese Regel auf häßliche Weise besonders unmittelbar deutlich.
Frischknecht: Ich suche dem Wort Sekte nach Möglichkeit aus dem Wege zu gehen, weil es ja meistens nur diffamierend verwendet wird. Mit
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