Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)
diesem Begriff werden die unterschiedlichsten Gruppen bezeichnet, von den Adventisten über Hare-Krishna-Jünger bis zu Himmelfahrtsbünden wird alles in einen Topf geschmissen und mit zunehmend inquisitorischen Mitteln ausgegrenzt. Du hast in diesem Zusammenhang von einem latenten Totalitarismus gesprochen.
Sloterdijk: Darunter verstehe ich das Verhältnis einer inklusiven Mehrheit gegenüber einer exklusiven Minderheit, wie es eine Sekte nun mal ist. Unsere Gesellschaft versucht, zumindest dort, wo sie liberal denkt, umzustellen von einer totalitären Inklusivität auf einen Pluralismus von Exklusivitäten. Das heißt, die Gesellschaft löst sich auf in ein Patchwork von exklusiven Minoritäten, denen man nicht leicht beitreten kann.
Ich spreche hier von Gruppen, die sich aufgrund bestimmter Merkmale bilden und die sich gegen außen abschließen. Die religiösen Gruppen machen es in vielerlei Hinsicht ähnlich, und häufig genug geraten sie – zumeist richtet man sich ja in einem Opferklischee ein – in die Nähe einer Selbstopferstruktur, weil sie natürlich auch begreifen, daß man heute vor allem als Gruppe von Opfern und Benachteiligten gesellschaftliche Durchschlagskraft erreicht.
Frischknecht: Da bekommen Gruppen mit einem Mal Zulauf, gerade weil sie geächtet und verfolgt sind.
Sloterdijk: Bei den Scientologen läßt sich das besonders gut beobachten. Sie folgen einer völlig schizophrenen Programmierung. Zum einen ist Scientology eine Religion der Sieger, zum anderen sind Scientologen aber auch verfolgte, gewissermaßen besiegte Sieger. Die, notabene amerikanischen, Führungskräfte dieser Sekte haben begriffen, daß sie gesellschaftlich den größten Erfolg haben als behinderte, benachteiligte, unverstandene Sieger. Diese Kombination ist das Nonplusultra: Eine Religion der reinen Schamlosigkeit und absoluten Entsolidarisierung, in der man erkannt hat, daß der Status des Verlierers noch mehr Gewinn bringt.
Frischknecht: Großen Erfolg hat ebendiese Mischung den ersten Christen gebracht.
Sloterdijk: Das war eine andere Konstellation. Die ersten Christen haben über die konkurrierenden Religionssysteme triumphiert, weil sie damals eine echte, in der antiken Welt zuvor nie dagewesene Form von Gemeindebildung und Freundschaftskultur ins Leben gerufen haben. Die frühe christliche Theologie war unter anderem auch der Versuch, die Erfahrungen, welche die Menschen in jenen Sekten gemacht hatten, in eine gemeinsame Sprache einzubringen. Damit trat ein basisdemokratischer Zug in die Geschichte, der bis heute aus ihr nicht ganz verschwunden ist. Man könnte fast sagen, daß die Europäer so gut wie alles der griechischen Stadtkultur verdanken und jenen christlichen Sekten, die sich später dann als Kirche offizialisierten. Das ist die europäische Mischung: Griechische Stadtkultur plus christliches, gutes Sektierertum. Damit meine ich Kommunikationsformen von Menschen, die einen neuen Grund entdeckt haben, um miteinander zu reden, weil sie demselben religiösen Wahnsystem anhängen – und das ist eben ein guter Wahn. Das christliche Wahnsystem hat sie menschlich und moralisch überlegen gemacht gegenüber den Wahnsystemen und zunehmend nackten Nihilismen der Römer, die sichmit ihren rohen Spielen und Unterhaltungsprogrammen in einen ideologischen Tunnel hineinbegeben hatten, aus dem es kein Entrinnen mehr gab.
Frischknecht: Woher kommt nur diese Heftigkeit der Reaktion? Warum fühlt sich eine Gesellschaft denn von diesen paar Gruppen so sehr herausgefordert?
Sloterdijk: Das rührt daher, daß die Europäer eine Kultur errichtet haben, die auf der Unterscheidung zwischen Zivilgesellschaft und religiöser Gemeinde aufbaut, das heißt, wir haben im Prinzip religiös neutrale Staaten. Seit dem Ende des Dreißigjährigen Krieges ist Europa in dieser Entwicklung von Generation zu Generation ein Stück weitergegangen. Religion wurde dabei zunehmend aus dem staatlichen Sektor verdrängt und in den privaten Sektor verwiesen. Früher war es umgekehrt, da war der Staat religiös, und die Bürger mußten ihre Freiheiten anderswo suchen. Heute ist der Staat liberal und reagiert hysterisch gegenüber einer Gesellschaft, die an einigen Stellen religiöser ist, als es ihm paßt. Ein Teil dieser Hysterie wird unter dem Stichwort Fundamentalismus abgehandelt.
Frischknecht: Da brauchen bloß einige mohammedanische Mädchen in der Schule Kopftücher zu tragen, und Europa stürzt in eine Debatte über Grundwerte seiner
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