Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)
Gottlosen. Die Kreisfahrten im Zirkus dementieren die elementare Hoffnung, das epochale Motiv der Neuzeit: den Vorrang der Hinfahrt, den Aufbruch ins Offene. Wenn Technik vollendete Beherrschung von Bewegungsabläufen ist, so bleibt uns eigentlich nur noch eine progressive Funktion: Bremsen.
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[ 4 ] Dieses Gespräch erschien unter dem Titel »Rollender Uterus« im Nachrichtenmagazin Der Spiegel (8/1995, S. 130).
Walter Saller ist ein deutscher Journalist.
Wirf den Seelenklempner raus!
Im Gespräch mit Martin Frischknecht [ 5 ]
Frischknecht: »Fire your shrink; hire a philosopher« heißt der neueste Trend in den USA , wo sich nach Heilung suchende Menschen offensichtlich vermehrt der Psychotherapie entziehen und Philosophen zuwenden. Therapie wird gemeinhin als Heilkunst definiert, Philosophie hingegen als Liebe zur Weisheit. Sollen denn die Philosophen plötzlich heilen können?
Sloterdijk: Philosophen können nichts heilen, auch sich selber nicht. Sie haben keine Heilungskompetenz, es sei denn, daß das Vermögen, zu heilen, ein Stück weit mit der Anmaßung zu heilen ausdehnungsgleich ist. Das ist ein Verdacht, der seit langem durch alle Therapiesysteme hindurchgeistert: daß das Wichtigste an jeder Methode ein Therapeut ist, der an sich selber und an seine Methode glaubt. Daß es also so etwas wie eine Überrumpelung zur Gesundheit gibt. Daß viele Menschen also gesund werden oder sich als gesund bezeichnen, weil sie sich einfach schämen würden, einem so überzeugenden Therapeuten wie dem ihrigen den Kummer anzutun, daß es ihnen nicht bessergeht. Der Therapeut tritt vor den Klienten und befiehlt den Krankheiten, diesen Körper zu verlassen. Sie sollen kehrtmachen und verschwinden, und das tun sie in der Regel dann auch.
Frischknecht: Wie stellt sich diesen Anforderungen nun der Philosoph?
Sloterdijk: Nicht anders. Er reiht sich ein in eine Tradition,die vor zweihundert Jahren mit Mesmers Heilmagnetismus begann und seitdem immer wieder neu besetzt wurde, ohne daß man wüßte, wie sich der therapeutische Erfolg eigentlich erzielen läßt. Wenn sich nun auch Philosophen in diesem Feld bewegen, so ist das nur eine Episode in dieser langen Geschichte des Rätsels, warum eine bestimmte Art von Nähe zwischen Menschen dem nehmendem Teil in dieser Begegnung guttut. Es gibt seit zweihundert Jahren eine sehr variantenreiche Geschichte des Experimentierens mit solchen Nähe-Arrangements; Begegnungen von Leuten, die einander zuhören, sich die Hand auflegen, die sich umarmen, sich ausweinen und so weiter; Arrangements, die in sich selber ein bestimmtes therapeutisches Potential freisetzen, von dem man nicht recht weiß, wem man es nun zuschreiben soll.
Das macht auch nichts, denn egal wie man dieses Arrangement einrichtet, stellt sich seine Wirksamkeit ein; es sei denn, die sogenannten Helfer sind ganz offenkundige Vampire oder Sadisten, die nur auf dem Umweg über ein solches Arrangement ihr Süppchen kochen können. Doch wenn man sich in einem halbwegs überschaubaren Maß an den Kodex der Begegnung in solchen Nähe-Feldern hält, dann ist fast durchwegs eine gewisse therapeutische Produktivität zu beobachten.
Frischknecht: Alles weitere wäre demgemäß Überbau: Ob sich der Anwesende nun an Rogers, Jung oder Heidegger orientiert, spielt keine so große Rolle.
Sloterdijk: Wichtig ist, daß Menschen miteinander in irgendeine Art von heilender Klausur gehen, daß sie miteinander eine kleine Verschwörung bilden, daß sie sich zusammentun wie zwei Leute, die sagen: So verrückt, wie wir sind, können andere für die Dauer unserer Beziehung nie werden. Wir leben für eine Weile als Verschworene, exterritorial gegenüber dem Rest der Welt, im Lande »Wir«, und regenerieren uns dort; basta. Und das funktioniert. Menschen sind Ergänzungstiere. Sie können nicht überleben in der Zuschreibung, die ihnen die individualistische Basisideologie der modernen Welt angedeihenläßt. Menschen können nicht wirklich das werden, was die individualistische Ideologie aus ihnen machen möchte. Es gibt keine Autonomie, selbst ob es Erwachsenheit im wahrsten Sinne des Wortes gibt, ist problematisch. Es gibt keine echte Unabhängigkeit, und selbst wenn es sie gäbe, wäre sie nicht wirklich wünschenswert. Menschen sind immer Zwillinge, kennen aber meistens das andere, ergänzende Individuum nicht, besetzen aber die Rolle oder den Platz des anderen im Verlaufe ihres Lebens mit verschiedenen Gesichtern, und wenn sie bei
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