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Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)

Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)

Titel: Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
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von psychischen Bedürfnissen. Sobald ein Bedürfnis eine organisatorische Gestalt bekommt, entsteht das Phänomen Hängenbleiben. Aber ich meine, man müßte das in einem breiteren Rahmen sehen. Auch Nationen sind voll von Menschen, die hängengeblieben sind. Ein Neugeborenes ist noch nicht Schweizer, noch nicht Deutscher, nicht Chinese. Weil sie sind, wo sie sind, werden sie auch lokal sozialisiert.
    In Sekten und religiösen Gemeinschaften tritt so etwas wie eine zweite Generation auf, aus deren Mitte dann die institutionalisierte Religion hervorgeht. Das ist ein Phänomen, das auch andernorts zu beobachten ist, zum Beispiel in der Psychotherapie. Es gibt Leute, die sind noch in Therapie und haben schon eigene Kinder. Soll man diese Kinder nun in staatliche Obhut nehmen, bis die Eltern eine Anzeige aufgeben: »Wir hängen jetzt nicht mehr fest!«
    Frischknecht: Du hast gut reden. Vor wenigen Jahren bist du Vater geworden, und seit ein paar Tagen bist du fünfzig Jahre alt.
    Sloterdijk: Ich habe mir Haken ausgesucht, an denen zu hängen weniger verfänglich ist als am Sektenhaken. Der Haken Philosophie ist vor 2400 Jahren von einem großartigen Wahnsinnigen in die Wand geschlagen worden, und daran zu hängen gilt heute als ziemlich ehrenhaft.
    Frischknecht: Hieße dieser Haken Scientology, so wärst du ruiniert und deine Ehre im Eimer.
    Sloterdijk: Das ist wahr. Es ist nicht gut für Menschen, wenn sie durch ihre Mitgliedschaft bei einer fördernden Gruppe Nachteile erleiden. Es ist ein Paradoxon, daß man gerade hilfesuchenden Menschen ersparen sollte. Sie gehen zu einem Helfer, weil sie psychisch nachreifen und sich holen wollen, was ihnen bisher nicht in angemessener Form gegeben worden ist. Dadurch werden sie in einen Diskriminierungssog hineingezogen, so daß sie zwei Probleme haben, wo sie zuvor nur eines hatten: Der Guru hilft ihnen zwar, führt sie aber zugleich ins soziale Abseits, so daß sie nur noch mit ihm und seinesgleichen erfreuliche Kontakte haben können, und vor den Türen der therapeutischen Räume fängt eine doppelt feindliche Umwelt an.
    In diesem Zusammenhang lobe ich mir Gesellschaften wie die amerikanische, wo die Sekte sozusagen das Konstituens der Gesellschaft selber ist. Da könnte man keine Sekten ausgrenzen, wie das in Europa geschieht, weil der Ausgrenzer, in dem Moment, wo er es täte, sich selber als Sektierer bloßstellte. Unter solchen Bedingungen muß ich über unsympathische Sekten nicht einmal eine Meinung haben. Das ist ein echter Ausdruck von Freiheit. Diese Freiheit haben wir in Europa zur Zeit nicht. Wir müssen über Scientology eine Meinung haben. Meinetwegen, es ist eine Verbrecherbande; doch weitaus besser wäre es, in einer Welt zu leben, in der man eine solche Meinung nicht haben müßte. Ich würde nicht sagen, das seien nette Leute. Aber ich möchte sagen können, daß deren Verbrechen, gemessen an Sachen, die sonst passieren, unwichtig sind. Es wäre mir das Liebste, sagen zu dürfen, daß mir ihr Treiben von Herzen egal ist.
    Frischknecht: Mittlerweile gibt es Gruppen, die das Programm, nicht von dieser Welt zu sein, derart wörtlich nehmen, daß sie sich kollektiv ihres Lebens entledigen. Wie deutest du diese Phänomene?
    Sloterdijk: Das sind keine Meditierer, keine Menschen, die in der Wahrnehmung leben. Sie leben in einem Comic. Sie waren nie da, sie waren ständig ausgestiegen. Für sie wäre die Abreise als Einreise zu strukturieren, um ihnen zu zeigen, daß es Orte gibt, an denen man ankommen kann. Die Selbstmörder von San Diego sind typologisch smarte intellektuelle, neukeusche, proper angezogene, sehr gut verdienende Mittelstandskinder gewesen, die nur zum Schein in ihre Gesellschaft integriert waren, tatsächlich jedoch immer auf der Raumstation.
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    [ 5 ] Dieses Gespräch erschien unter dem Titel »Interview mit dem Philosophen Peter Sloterdijk« in Spuren – Magazin für Neues Bewußtsein (45/1997).
Martin Frischknecht ist Herausgeber der Zeitschrift Spuren – Das Leben neu entdecken , Winterthur (Schweiz).

Philosophische Umstimmung

Im Gespräch mit Felix Schmidt [ 6 ]
    Schmidt: Herr Sloterdijk, vor ein paar Monaten haben Sie noch darüber geklagt, daß die Philosophie abgedankt habe und der Diskurs über philosophische Themen tot sei. Die Reaktion auf Ihre »Regeln für den Menschenpark« muß Sie doch eines Besseren belehrt haben.
    Sloterdijk: Ich bin beeindruckt vom Umfang der öffentlichen Diskussion und von dem Niveausprung in der

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