Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)
Großräumigkeit der Welt.
Geyer: Ihr Buch von der Weltfremdheit endet ja mit einem, fast hätte ich gesagt, Pathos, einem versöhnlichen Pathos, das man heute in der Philosophie nicht mehr gewöhnt ist. Sie schreiben: »Die Pflicht, glücklich zu sein, gilt in Zeiten wie unseren mehr denn je. Der wahre Realismus der Gattung besteht darin, von ihrer Intelligenz nicht weniger zu erwarten, als von ihr verlangt wird.«
Sie haben also offenbar das Vertrauen in den Menschen noch nicht verloren. Man hat sogar den Eindruck, daß Sie seit der Kritik der zynischen Vernunft optimistischer geworden sind …
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[ 3 ] Dieses Gespräch zwischen Peter Sloterdijk und Andreas Geyer wurde erstmals im Bayerischen Rundfunk ausgestrahlt (2.12.1994).
Andreas Geyer ist Leiter der Redaktion Medizin des Bayerischen Rundfunks in München.
Rollender Uterus
Im Gespräch mit Walter Saller [ 4 ]
SPIEGEL: Warum ist der moderne Mensch so besessen vom Auto?
Sloterdijk: Das ist ein obsessives Verhältnis: Mensch und Fahrzeug bilden eine Einheit, in der das Fahrzeug die Rolle des besseren Ichs übernehmen kann. Es ist das schnellere, das kinetisch mächtigere Selbst, das sich im Automobil darstellt. Ich sehe die Einheit von Mensch und Fahrzeug schon bei Plato vorgebildet. Überhaupt in allen Kulturen, die das Rad, den Wagen, die Reiterei entdeckt und das kentaurische Motiv entwickelt haben: Der Mensch mit seiner kleinen Kraft reitet auf einer größeren animalischen Energie, verwandelt zum Hybridwesen mit menschlicher Front und Pferdeunterleib.
SPIEGEL: Verkehrsplaner, die dem Auto nur Transportaufgaben zuschreiben, haben demnach sein Wesen nicht begriffen?
Sloterdijk: Alle Theorien, die das Auto als Transportmittel charakterisieren, vergessen eine ganze Dimension: Das Automobil ist ebensosehr Rausch- wie Regressionsmittel. Es ist ein rollender Uterus, der sich von seinem biologischen Vorbild dadurch vorteilhaft unterscheidet, daß er mit Selbstbeweglichkeit und Autonomiegefühlen verbunden ist. Und es geht noch tiefer: Das Auto ist eine um den einzelnen Fahrer herumgebaute platonische Höhle mit dem Vorzug, daß man in ihr nicht angeschmiedet sitzt, sondern daß die fahrende Privathöhle Ausblicke auf eine vorbeigleitende Welt gewährt. Daneben gibt es auch phallische und anale Komponenten am Auto: das primitiv-aggressive Konkurrenzverhalten, das Aufprotzen und das Überholen, bei dem der andere, der Langsamere, fast wie beim Stuhlgang, zum abgestoßenen Exkrement gemacht wird.
SPIEGEL: Dann wäre der Katalysator gleichsam die Windel der analen Lust?
Sloterdijk: Der Katalysator bringt eine Form der Reinlichkeitserziehung am automobilen Selbst mit sich. Lauter dunkle Motive, die beim zivilisierten Menschen blitzschnell aufbrechen, wenn er am Steuer sitzt. Im Auto werden eben Stadien von der allmählichen Rückführung des erwachsenen Ego bis zur intrauterinen Molluske durchlaufen. Und auf jeder Ebene der psychischen Entwicklung bildet das Automobil Spannungen und Aggressionen in der Ich-Werdung ab.
SPIEGEL: Wenn es vielleicht etwas schlichter ginge: Weshalb sind denn so viele Menschen hinter dem Steuer so aggressiv?
Sloterdijk: Im Verkehr geraten regredierte Ichs aneinander, die sich sehr oft angesprochen fühlen von ›King-of-the-Road-Mythen‹ und kindlichen Königsprojektionen am Steuer. Gerade ichschwache Menschen neigen stark dazu, solche Mythen aggressiv auszuleben und das Automobil zu ihrem Ausdrucksmittel zu machen.
SPIEGEL: Das Auto muß also entzaubert werden. Wie kann das gelingen?
Sloterdijk: Im Augenblick sehe ich dazu keine Chance. Seit 20 Jahren führen wir eine ökologische Debatte, und das Automobil steht immer noch strahlend da. Es hat sich ästhetisch und technologisch explosiv entwickelt. Das spricht dafür, daß wir es beim Auto mit einer archetypischen Gewalt zu tun haben, die völlig immun gegen Aufklärung ist.
SPIEGEL: Und wohin steuert das aufklärungsresistente Auto?
Sloterdijk: Es ist auf der Fahrt ins Nirgendwo, auf der Fahrt in die Fahrt. Autos sind in gewisser Hinsicht Zirkusfahrzeuge, Vehikel der Aussichtslosigkeit. Aber einer begeisterten Aussichtslosigkeit. Man genießt die Fahrt als Fahrt und kann so die Frage nach den Zielen außer Kraft setzen. Autofahren ist eine Weltreligion. Die ganze Moderne ist wie eine Arena, eine in sich geschlossene Strecke. Deshalb sind auch die Formel-1-Rennen so wichtig. Sie sind der moderne Beleg für das, was der Apostel Paulus schrieb: Im Kreise laufen die
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