Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)
Rädern suchen wir die Mutter, auf allen Wegweisern steht »Maternität«. Wir fahren immer auf dem Maternity Drive. Wenn wir uns auf dieser Analyseebene festsetzen, dann wird das Fahrzeug als ein Mittel verstanden, um eine alte Bewegung mit einem neuen Medium auszuführen. Wählen wir diese romantische und psychoanalytische Theorie der Fahrt, dann lautet die Antwort auf die Frage, wohin wir fahren: »Immer nach Hause«. Mir hingegen käme es darauf an, den Unterschied zwischen alten und neuen Bewegungen herauszuarbeiten. Für neue Bewegungen ist eine nicht-platonische Kinetik nötig, also eine Theorie des Exodus. Hier gilt der Vorrang der Hinfahrt. Ich denke, wir sollten auch für den Hinweg ein Argument entwickeln, das es an Stärke mit den platonischen und psychoanalytischen Zurückführungen aufnehmen kann. Wir müssen in der Theorie Platz schaffen für Fahrten ins Neue und dementsprechend dem Fahrzeug eine Funktion bei solchen exodusartigen Bewegungen zusprechen. Auch das Automobil kann uns an Orte tragen, wo wir noch nie waren. Es ist nicht nur das Regressionsmittel, als das wir es in unseren interessantesten Theorien verdächtigen, sondern es kann uns auch neue, offene Orte erschließen, es kann also ein Medium des Zur-Welt-Kommens sein.
Wir müssen dem Auto beide Potenzen zusprechen, die der menschlichen Grundbeweglichkeit zukommen – Exodus und Regression. Immer wenn Menschen eine Bewegung hinaus vollziehen, kommt, philosophisch gesprochen, eine Bewegung desZur-Welt-Kommens ins Spiel. Werden Menschen geboren, so finden sie nicht nur ihre Mutter vor, die das erste Fahrzeug war und es noch für eine Weile bleibt, sondern sie entdecken auch die Welt, in die man ohne Mutter weiterzieht. Vielleicht heißt lernen für uns vor allem, den Unterschied zwischen Mutter und Welt auf einer tieferen Ebene zu verstehen. Von hier aus bekommen die Fahrzeuge ihre Bedeutung. Wären sie nur Mittel, um eine Schoßsituation wiederherzustellen und um in eine Innenwelt zurückzukehren, dann wären sie bloße »Heimfahrzeuge«. Aber ich will den Akzent auf die andere Bewegungsrichtung setzen: Wie sieht es mit dem »Hinfahrzeug« aus? Wo sind die Verkehrsmittel, durch die wir ins Offene kommen? Um hierauf eine überzeugende Antwort zu geben, scheint es mir wichtig, auf einen grundlegenden Mangel der zeitgenössischen Debatten über Automobilität hinzuweisen. Sie alle leiden darunter, daß sie viel zu »auto-zentrisch« und auf Bewegungen zu Lande beschränkt sind. Daraus folgt, daß wir die Differenz zwischen dem Schiff und dem Automobil nicht tief genug denken. Der Grund hierfür ist trivial: Die meisten Menschen, die heute über das Automobil reden, sind unverbesserliche Landmenschen, mithin Leute, die binnenländische Begriffe benutzen, um die Beweglichkeit überhaupt zu erklären, und das führt zu einseitigen Konzepten.
Wer die Wahrheit sucht über das Fahrzeug, bei dem der Primat der Hinfahrt gilt, kommt nicht umhin, sich mit dem Schiff zu befassen – von der Argo des Theseus bis zur Santa Maria des Kolumbus. Wir tun dem Automobil zuviel Ehre an, wenn wir die Frage nach der Mobilität nur in seinem Zeichen stellen. In einer vollständigen Theorie der Mobilität müssen die Schiffe, insbesondere die Hochseeschiffe des Entdeckungszeitalters, viel höher veranschlagt werden, als wir es üblicherweise tun. Das Schiff ist ja auch heute noch in vieler Hinsicht viel zauberhafter als das Automobil, und die Akteure und Zuschauer der großen Schiffahrtszeit haben diesen Zauber stark empfunden. Aufs Ganze gesehen ist die Schiffsmythologie mächtiger als die jetzt gerade hundert Jahre alte Automobilmythologie. Die Poetik des Schiffsraumes ist umfassender als die Poetik des Automobils – das Automobil hat in seinen ersten hundert Jahren seinen Herman Melville noch nicht gefunden. Nicht zufällig spielt der größte Roman der Weltliteratur auf einem Walfangschiff – wir warten auf ein Buch, in dem das Automobil so zur Weltmetapher aufsteigt, wie Melvilles unerhörtes Buch es für die Schiffahrt vorgemacht hat. Das 20. Jahrhundert hat, vor allem in seiner zweiten Hälfte, den Primat der Schiffe liquidiert und von diesem bis dahin noch immer mächtigsten aller Fahrzeuge nur vage Erinnerungen zurückgelassen. Die Folge davon ist, daß unsere Gedanken über den Verkehr durch das Paradigma der Fahrt auf Straßen beherrscht werden und daß wir von Bewegungen, die im Zeichen der Hinfahrt, des Exodus und des Ozeans stehen, so gut wie nichts
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