Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)
weniger geschützten Raum, der seiner Offenheit ungeachtet gleichwohl weiterhin einen gewissen Schutzraumcharakter behalten muß, wenn er bewohnbar bleiben soll. Anders gesagt, das Proprium der menschlichen Geburt ist der Exodus aus der Innenwelt in die eigentliche Welt als Offenheit, Freiheit, Gefahr. An dieser Bewegung hängt nach meiner Grundanalyse die menschliche Mobilität, soweit sie den Philosophen interessiert. Es gibt natürlich auch außerphilosophische Aspekte der Mobilität, die ganz in der physikalischen, soziologischen oder ökonomischen Dimension aufgehen. Aber sobald man mit philosophischen und tiefenpsychologischen Instrumenten nach menschlicher Beweglichkeit fragt,kommt man sofort auf das Feld, wo diese natale Differenz ins Spiel kommt.
KRIES: Ist der Drang nach Bewegung angeboren, ist der Bewegungsdrang, wie ein Urelement, etwas Unaufhaltsames?
SLOTERDIJK: Mit anthropologischen Verallgemeinerungen muß man hier wie überall sehr vorsichtig umgehen. Immerhin ist es eine Tatsache, daß beim größten Teil der Menschheit die letzten 10 000 Jahre auf ein bewegungsfeindliches Experiment verausgabt wurden – auf den allumfassenden Versuch, den anfänglichen nomadischen Bewegungsfluß der Menschen stillzustellen. Dieses größte Attentat auf die Beweglichkeit, das jemals unternommen worden ist, trägt den schönen Namen Seßhaftigkeit und ist ausdehnungsgleich mit der agrarischen und auch agrosophischen oder agrarontologischen Periode der menschlichen Kulturgeschichte. Der Boden, auf dem der Bauer festsitzt, die Scholle, die den Menschen selber in eine zweite Pflanze verwandelt, ist eine Macht von unerhörter Intensität und Dauer, und wir sind weit davon entfernt, uns von ihr völlig befreit zu haben.
Und doch ist der Boden nicht die Übermacht schlechthin geblieben, er hat die Menschen nicht überall ein für allemal definiert. Das Zeitalter der Seßhaftigkeit und der fixen Bodenbindungen läuft, wie wir sehen, in Europa mit dem Anbruch der Neuzeit aus, und eine neo-nomadische Epoche meldet ihre Forderungen an. Die Tiefentendenz des 20. Jahrhunderts besteht darin, das Weltalter der Seßhaftigkeit zu beenden und in den Menschen das kinetische Potential freizusetzen, das über 10 000 Jahre lang gebunden war.
KRIES: Gleichwohl hat sich in den Mythologien fast sämtlicher Völker auch während der Seßhaftigkeit immer wieder der Drang nach Mobilität gezeigt …
SLOTERDIJK: Weil in der alten Seßhaftigkeit ein Element von Zuviel enthalten war, durch das den Menschen eine Fesselung zugemutet wurde, die über seine kinetische Wahrheit gelogen hat. Diese mußte darum an anderer Stelle zutage kommen,und zwar vor allem in den psychischen Evasionen und imaginären Ausflügen, die für jene Zeiten charakteristisch sind – um von Krieg und Wallfahrt, den beiden formalisierten Kompensationen der Seßhaftigkeit, für den Augenblick nicht zu sprechen. Man könnte durchaus behaupten, daß die Menschen, was ihre metaphysische und imaginäre Beweglichkeit anbelangt, in den 10 000 Jahren der großen Ruhigstellung mobiler waren als wir heute mitsamt unseren Eisenbahnen, Flugzeugen und Automobilen, und zwar deswegen, weil die Menschen dieses Weltalters innere Landkarten besaßen, auf denen sehr großräumige Bewegungen eingezeichnet waren. Ihr wichtigstes Verkehrsmittel war die Seele, die bekanntlich schneller und genußvoller reist als der moderne Automobilist.
KRIES: Können Sie konkrete Beispiele dafür nennen, für Mythen oder Seelenreisen? Wie hat sich das vollzogen?
SLOTERDIJK: Die Seelenreisekultur fängt mit der Beobachtung an, daß Individuen ihre Seelen verlieren können. In der Depression werden manche Menschen von ihrem beseelenden Prinzip getrennt, sie werden starr, sie werden müde, sie scheinen entseelt und bewegen sich nicht mehr im Rhythmus der Gruppe. So wird die kleine Gesellschaft darauf aufmerksam, daß eines ihrer Mitglieder eine Entseelungskrise durchmacht oder – um es mit einem anachronistisch modernen Ausdruck auszudrücken – an einer Depression leidet. In dieser Situation liegt der Gedanke nahe, daß sich die Seele verirrt haben muß. Die Schamanen werden jetzt wichtig, weil sie über die Kunst verfügen, die verlorengegangene freie Seele des Depressiven zu suchen, irgendwo am Rande der Welt, und sie zu ihrem Besitzer zurückzubringen. Die frühen Bewegungsexperimente und schamanistischen Seelenreisen haben den Sinn, die Allianz zwischen den Menschen und ihren Animatoren, also ihren
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