Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)
einer enormen Nachfrage rechnen. Eben dies tun Automobilhersteller. Sie bieten eines der überzeugendsten Souveränitätsdarstellungsmittel in der gegenwärtigen Welt an, und wir können nicht nicht nachfragen. Was mich persönlich angeht, so geht mir gelegentlich der Gedanke durch den Kopf, wie es kommt, daß ich in meiner Umgebung so viele Freunde habe, die keinen Führerschein besitzen. Wie ein Magnet, der aus einem alten morschen Schiff die Nägel herauszieht, habe ich die seltsame Fähigkeit, aus der intellektuellen Szene Menschen anzuziehen, die völlig nicht-automobilistisch funktionieren. Ich glaube, von meinen engeren Freunden hat überhaupt keiner oder nur einer oder zwei einen Führerschein. Offensichtlich spielen wir eine andere Form von Souveränitätsspielen, bei der das Herumfahren in der Gegend keine Rolle spielt, ich bin der einzige schäbige Automobilist in dieser erlesenen Clique. Wir haben ein Sympathiesystem aufgebaut, in dem das Selberfahren belanglos geworden ist. Wir sind, glaube ich, allesamt Menschen, die eher in die alte schamanistische Kultur gehören, wo man noch mit Seelenreisen seine Hochgefühle erzeugt, und für die gibt es keinen Führerschein.
KRIES: Es gibt eine Vielzahl von Menschen, die sich ohne Automobil physisch gar nicht existent fühlen. Für ihre Identität ist das physische Erlebnis, diesen Maschinenkörper an der Seite zu haben, ganz grundlegend.
SLOTERDIJK: Diese Menschen haben ihre Vorgänger in den Pferdekulturen der letzten drei- bis viertausend Jahre. Da gab es schon einmal die Symbiose zwischen einem animalischen Verkehrsmittel und dem Reiter, also die kentaurische Situation. Auch das Pferd als Ergänzer hat seine Mythologie produziert. Der typische Reitermensch ist heute unauffällig geworden, obwohl es ihn immer noch gibt – meistens auf der Seite der jungen Frauen, vorne Mädchen, hinten Pferd, das sind die animalischen Kentauren von heute, während wir bei den technischen Kentauren innen den Mann am Steuer haben und außen rundherum das Auto. Im übrigen gibt es heute fast genauso viele Pferde wie im 18. und 19. Jahrhundert, nur daß die Pferde jetzt allesamt umgewidmet sind. Es gibt fast nur noch Freizeitpferde und keine Arbeitspferde mehr. Ist das nicht eine seltsame Beobachtung an der gegenwärtigen Gesellschaft: daß nur die Pferde die Emanzipation geschafft haben? Menschen sind Arbeitstiere wie eh und je geblieben, auch wenn sie unglückliche Arbeitslose sind, aber die Pferde, die heute auf deutschen Koppeln stehen, sind allesamt Lustpferde, posthistorische Pferde. Sie werden von Kindern gestreichelt und von Erwachsenen bewundert, und die letzten Arbeitspferde, die man noch gelegentlich im Zirkus und auf Rennplätzen sieht, tun einem ganz besonders leid. Manche werden bei der Psychotherapie für verhaltensgestörte Kinder eingesetzt, doch hierbei behandelt man sie gut und respektvoll. Alle übrigen europäischen Pferde haben das geschafft, wovon Menschen noch träumen – es sind die einzigen, bei denen der Traum der Geschichtsphilosophie von einem guten Ende der Geschichte sich verwirklicht hat. Sie sind die glücklichen Arbeitslosen, auf die die Evolution hinauszulaufen schien. Für sie ist das Reich der Freiheit erreicht, sie stehen auf ihrer Koppel, werden gefüttert, wissen nichts mehr von der alten Schinderei und leben ihre natürliche Beweglichkeit aus.
KRIES: Was bedeutet das Auto für unsere Mobilität?
SLOTERDIJK: Aus philosophischer Perspektive muß man die Frage nach der »eigentlichen« Bedeutung des Automobils auf folgende Weise stellen: Machen wir mit einem Fahrzeug neue Bewegungen – also Fahrten zu Orten, an denen wir noch niemals waren? Oder benutzen wir das neue Fahrzeug für alte Bewegungen, also für Reisen, die wir nach ältesten Mustern immerzu wiederholen und für welche das Fahrzeug nur eine neue Inszenierung liefert? Im letzten Fall spreche ich von platonischen Bewegungen, im ersten von exodusartigen Bewegungen. Auf dem Weg der platonischen Erklärung glauben wir eine Bewegung verstanden zu haben, wenn wir ihr altes Muster wiederfinden, also wenn wir zum Beispiel sagen können: Hier wird der geburtliche Durchbruch mit anderen Mitteln wiederholt. In der platonischen Verkehrsanalyse geht die Fahrt immer rückwärts ins Ursprüngliche, und alle Fahrzeuge sind Hilfsmittel einer rückwärtsgewandten Sehnsucht. In dieser Sicht dienen alle Fahrzeuge letztlich nur der Heimreise. Überall gilt der Vorrang der Rückfahrt. Mit allen
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