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Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)

Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)

Titel: Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
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Begleitgeistern, den Begeisterungshelfern, neu zu knüpfen. Dies trägt einer Wahrheit Rechnung, die lange vor aller Philosophie und vor den Hochreligionen in Kraft war: daß Menschen sich nur dann richtig bewegen, wenn ihr bewegendes Prinzip, ihrwahrer Motor, ihre Seele, bei ihnen ist. Ohne Begeisterung keine gute Bewegung.
    KRIES: Demzufolge wäre die Erfindung des Automobils oder der mobilen Instrumente und deren Nutzung eine Art Antidepressivum?
    SLOTERDIJK: Durchaus, denn das Auto ist eine Maschine zur Steigerung von Selbstbewußtsein, nur daß jetzt ein äußerer Motor für die Bewegung sorgt. Das Auto gibt seinem Piloten ein Plus an Kraft und Reichweite. Es herrscht heute leider ein Übergewicht an naiven verkehrssoziologischen Theorien, die in Automobilen vor allem Transportmittel erkennen wollen. Aber solange man bloße Transportwissenschaft betreibt, kommt man an die wesentlichen Schichten der modernen Automobilität nicht heran. Ich glaube, man muß in den Fahrzeugen der Menschen in erster Linie Verklärungsmittel und Intensivierungsmittel sehen, mithin kinetische Antidepressiva. Und sicher kommt die große Nachfrage nach Automobilität von Menschen, die mit dem Fahrzeug ihren Aktions- und Könnensradius vergrößern wollen. Hierzu spricht die Statistik eine deutliche Sprache: Von drei Verkehrsbewegungen mit dem Automobil steht nur eine in Zusammenhang mit Arbeit und mit dem, was man im ökonomischen Sinn Transport nennt. Zwei von drei Bewegungen sind Evasionen, man fährt zu seiner Geliebten, man fährt ins Grüne und in die Ferien, man macht Besuche, man benutzt das Auto als Mittel zur Abreaktion. Man möchte glauben, mit dem Auto rächt man sich jetzt an den lästigen Zumutungen der Seßhaftigkeit.
    KRIES: Daher die Sehnsucht nach Fortbewegung?
    SLOTERDIJK: In gewisser Weise ja, doch muß man, wenn man so reden will, den Sinn von Sehnsucht ordentlich ableiten. Man müßte sagen können, wie die Sehnsucht zu den Menschen kam – oder wie wir von der Sehnsucht gefunden wurden. Die Sehnsucht ist der Stoff, aus dem die Bewegungen sind, sie spannt den Bogen nach Zielen, an denen wir nicht sind. Doch denke ich, daß man von Sehnsucht nicht reden soll, wenn mannicht zuvor und zugleich von der Seßhaftigkeit und von der Wunschorganisation bei stillgestellten Menschen spricht, mithin von dem System der Frustrationen, in dem die für unsere Lebensform charakteristischen Sehnsüchte modelliert werden.
    KRIES: Heute besitzt das Auto an sich ja eine eigene Mythologie.
    SLOTERDIJK: Daß dies so ist, hat eine enthüllende Seite, denn Mythen entwickeln sich nach meiner religionstheoretischen Arbeitshypothese nur dort, wo Menschen versuchen von dem zu sprechen, wodurch sie ergänzt werden. Die Menschen sind Wesen, die sich von ihrem ergänzenden Prinzip her verstehen – man könnte auch sagen von ihren unsichtbaren Partnern her. In der mythischen Periode des Bewußtseins wurden diese vor allem als Götter und Geister, heute hingegen als technische Ausweitungen des menschlichen Körpers, das heißt als Maschinen und Medien gesehen. Alle Kulturen arbeiten daran, sich in ihre symbolischen Hüllen einzuspinnen, und diese Hüllen werden zunächst durch die Begleitgeister gewoben. Gerade weil das Auto in gewisser Weise ein materialisierter Begleitgeist ist, scheint es einer mythologischen Entwicklung fähig. Man kann Autos taufen, man kann mit Autos reden, und sie haben das, was alle religiösen Sphären an sich haben: Man kann in sie hinein, sie erlauben die Immersion. Denn Menschen sind, wie wir in unserer Ausgangsüberlegung zumindest auf indirekte Weise erwähnt haben, Wesen, die nicht anders können, als ständig nach dem Unterschied zwischen Innen und Außen zu fragen. Sie können die Frage nicht unterdrücken nach dem Unterschied zwischen Geborensein und Nichtgeborensein. Und weil dieser Unterschied nie ganz klar wird und weil das ideale Innen sich weder ganz abstreifen noch ganz wiederherstellen läßt, stellt sich für Menschen immer die Frage: Wie bringen wir es fertig, im Außen wieder so gut wie drinnen zu sein? Darauf ist das Auto eine suggestive Antwort. Es ist die perfekteste Lösung der folgenden Denkaufgabe: Wie kann ich mich souverän bewegen, obwohl ich mich nicht hinauswage?
    Moderne Menschen sind Kunden, die nach Mitteln zur Darstellung von Souveränität eine Nachfrage anmelden. Das ist der kulturelle Grundmarkt. Wer Mittel zur Darstellung oder Simulation von Souveränität anbieten kann, kann immer mit

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