Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)
allerdings einiges über jene aussagt, die Gefallen daran finden, mich als noch Dümmeren zu denunzieren. Denn man weiß doch, daß das Kulturelle beginnt, wo das Biologische aufhört. Ich habe in den Debatten, die sich an die »Menschenpark-Krise« anschlossen, nie ein Geheimnis daraus gemacht, daß ich auf der Seite der Kultur stehe. Also: Der Elitegedanke kommt aus dem Erziehungsbereich und nicht aus der Biologie.
Schmidt: Ist die in das Biologische verlegte Debatte eine Ersatzdebatte für die nicht geführte Diskussion über die Mängel in Erziehung und Bildung?
Sloterdijk: Man muß es noch schärfer sagen: Ersatz für die gefürchtete, aber wohl nicht mehr lang aufschiebbare Debatte über eine sozialpsychologische Katastrophe im wahrsten Sinn des Wortes, die vom Schulwesen her in die moderne Gesellschaft vordrängt. An diesem absichtlichen Verschweigen der Bildungskatastrophe liegt es, daß man irgend jemandem zutraut, er würde die Schule zugunsten irgendwelcher biologischer Mechanismen abschaffen wollen. Doch das Phantasma ist interessant, weil es davon zeugt, daß es wirklich ein Bedürfnis nach Abschaffung der Schule gibt.
Schmidt: Gibt es eine Alternative zur Schule?
Sloterdijk: Auf die Frage der Gesellschaft nach dem, was man an die Stelle der scheiternden Erziehung setzen könnte, gibt es keine überzeugende Antwort. Sicher ist nur, daß man alternative Antworten in der Biotechnik nicht finden kann. Was not tut, ist eine Bildungsoffensive diesseits der Biologie.
Schmidt: Woran liegt es, daß wir uns um eine substantielle Debatte herumdrücken?
Sloterdijk: Es gibt drei oder vier Themen, über die Menschen a priori ungern reden: der Tod, die Schule und die Mütter. Und in dieser Triade ist vielleicht die Schule noch das Unangenehmste.
Schmidt: Über die Schule haben Sie gesprochen, reden Sie doch mal über Ihre Mutter.
Sloterdijk: Wenn ich über dieses Thema rede, spreche ich über eine seltsame Tragödie, über die ich bisher nichts öffentlich verraten habe und die mich bis in diese Tage hinein beschwert.
Schmidt: Ein Mutterkomplex?
Sloterdijk: Meine Mutter war eine hochbegabte Frau, die mitten im Ersten Weltkrieg geboren worden ist, zu einer Zeit, als ihr Vater bereits unter den ersten Gefallenen der Westfront war. Sie hat mit der Frage »Wo ist der richtige Vater?« aufwachsen müssen. Diese Frage ist gewissermaßen der Schicksalsgenerator für sie gewesen, weil sie zeitlebens mit Menschen, mit Männern vor allem, nicht zurechtgekommen ist.
Schmidt: Auch nicht mit ihrem Sohn?
Sloterdijk: Es ist nun nicht einfach, der Sohn einer solchen Frau zu sein. Denn daraus ergibt sich eine Reihe von Komplikationen, die in meine Lebensbahn von vornherein hineingewoben waren. Ich habe Jahrzehnte des Grübelns und experimentierenden Lebens gebraucht, um diese Zusammenhänge zu begreifen und zu verarbeiten. Die Auferstehung des Toten im Kind und im Enkelkind ist eine unheimliche Sache, und erst in den letzten Jahren ist diese Phantomgeschichte einigermaßen abgearbeitet. Ich habe sozusagen meinen persönlichen Heldenfriedhof für den Großvater angelegt und bin dabei, im Namen auch der übrigen Familienmitglieder, ihn zu beerdigen. Ich weiß aufgrund dieser Erfahrungen, wie langwierig psychische Erbgänge sind, wie mächtig Seelengeschichte ist; ich weiß, daß unterhalb der offiziellen Geschichte, der Tageshistorie, auch eine Nachtseite der Geschichte existiert.
Schmidt: Inwieweit hat das Ihre Arbeit beeinflußt?
Sloterdijk: Meine ganze Arbeit war bisher eine Art Untertage-Geschichtsschreibung, in der ich versucht habe, die Geschichte der Rätsel, die Geschichte der Verletzungen und die Geschichte des unbewußten Suchens in die offizielle Version der Philosophie hineinzuweben. Deshalb ist mein Philosophiebegriff immer ein stark psychologisch mitdefinierter, was zu manchen Mißverständnissen geführt hat. Denn der Philosoph soll ja philosophieren, anstatt sich mit Psychoanalyse zu beschäftigen. Allgemeiner gesprochen, die Philosophie ist entweder eine Form von glücklicher, hintergedankenloser ontologischer Mathematik, und das ist ganz passabel. Oder sie ist eine Abwehrform, mit anderen Worten, eine ganz seltene Form von Dummheit, die sich eine gesellschaftlich respektable Fassade verschafft. Und nur in wenigen Fällen ist sie eine heilsame Arbeit am Ungesagten der Kultur.
Mein Leben stand ab 1975 ganz unter dem Vorzeichen der Selbsterfahrung. Dazu gehört auch meine indische Exkursion. Ich glaube
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