Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)
mehr verstehen.
KRIES: Die Welteroberung mit dem Schiff hat eine andere Faszination als die des Autos, wohl auch weil das Automobil ein Massenphänomen geworden ist und sich die Abenteueraspekte, die sich immer noch mit der Seefahrt verbunden haben oder sich auch in unserer Fantasie mit der Seefahrt verbinden, natürlich nicht auf das vierrädrige Fahrzeug zu übertragen sind.
SLOTERDIJK: Aber die Automobilität hat das Bewegungsprivileg demokratisiert. Man vergißt heute zu gerne, daß Beweglichkeit bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts ein aristokratisches Vorrecht war. Es herrschte, wer sich schneller und erfolgreicher fortbewegte. Der Herr spiegelte sich in seinen Fahrzeugen. Wir haben heute die kinetische Demokratie hergestellt durch die massenhafte Verteilung von Bewegungsmitteln. Das ist der eigentliche Grund dafür, daß sich die Leute heute gleich fühlen. Nicht weil sie gleich begabt oder gebildet wären oder gleiches Wahlrecht haben, sondern weil sie gleich schnell sind und weil der kleine Mann den reichen Herrn jederzeit überholen kann. Die kinetische Emanzipation hat auf den Straßen stattgefunden, daher: the truth is on the highway. Von Amerika kann man lernen, daß die Massenkultur substantiell Automobilkultur ist. Mit der Erinnerung an die Seefahrzeuge käme dagegen wieder ein eher aristokratischer und maritim-nomadischer Typus von Beweglichkeit in den Blick. Im übrigen muß man zugeben, daß ein Hafen einen anderen Zauber hat als ein Parkplatz. Zudem hat auch das Antriebssystem, der Wind, einen tieferen Bezug zur Einbildungskraft, zu den Beseelungsvorgängen, die das Imaginäre anregen, als der Düsenantrieb eines modernen Flugzeuges.
KRIES: Dieses Argument bringen auch Cabrio-Fahrer oder Motorradfahrer vor.
SLOTERDIJK: Die Motorradfahrer sind wiedergekehrte Seeleute, die den Sturm nicht vergessen können und die Ekstase des offenen Meeres nicht entbehren wollen. Doch da wir heute darauf angewiesen sind, die maritimen Ekstasen in einem anderen Medium nachzuspielen, bleibt nur das Vollgaserlebnis.
KRIES: Die aktuelle Diskussion um Mobilität wird ja auch dadurch bestimmt, daß gefragt wird, welches Verkehrsmittel für welchen Zweck adäquat ist …
SLOTERDIJK: Die ordentlichen Transportwissenschaftler und die Herren von den städtischen Verkehrsbetrieben leiten ihr Beweglichkeitsideal in der Regel vom Schienenfahrzeug ab. Nur auf der Schiene wird ein Traum von der sicheren Bewegung realisiert. Nur im Schienenverkehr läßt sich das Ideal der vollkommen reversiblen Bewegung implementieren, Hinfahrt minus Rückfahrt ist gleich null. In tiefenstruktureller Sicht läßt sich im heutigen Verkehrswesen ein Kampf zwischen den wahnsinnigen und den vernünftigen Transporteuren beobachten, in dem die vernünftigen für die Schiene optieren und die wahnsinnigen für die Straße, weil nur die Straße als Substitut für Luft, Ozean und Urgewässer dienen kann. Auf der Straße können alle rauschhaften, überschießenden Potentiale des Bewegungsdrangs im Progressiven wie im Regressiven ausgelebt werden. Die Schiene hingegen macht dem kinetischen Delirium ein Ende.
KRIES: Immerhin berufen sich die vernünftigen Transportwissenschaftler auf ein sehr konkret faßbares Risiko, das unsere Beweglichkeit heute in sich birgt. Sie selbst haben ja von der kinetischen Utopie gesprochen …
SLOTERDIJK: Man kann diese kinetische Utopie auch umformulieren in eine religionskritische und opfertheoretische Sprache. Dann ist zu fragen: »Wie viele Opfer ist uns ein solches hohes Mobilitätsgut wert?« Tatsache ist, daß normalerweise alles, was Menschleben kostet, heute verboten ist, weil wir das Menschenopfer abgeschafft haben. Acht- oder zehntausend Verkehrstote pro Jahr sind dennoch kein zureichender Grund, die Unterdrückung des Straßenverkehrs zu fordern. Wir machen hier eine Gegenrechnung, und weil tatsächlich die Mobilität die okkulte kinetische Religion der Moderne ist, besteht nicht die geringste Aussicht auf Einschränkung oder Unterdrückung dieser Mobilitätsforderungen. Ganz im Gegenteil, wir müssen darüber nachdenken, wie wir den Forderungen nach weiterer Steigerung entgegenkommen. Wer heute Mobilitätsbeschränkungen verfügen wollte, würde einen Bürgerkrieg auslösen.
KRIES: Sind Autos weiblich oder männlich?
SLOTERDIJK: Automobile sind außen männlich und innen weiblich, wie es sich für amphibische oder hermaphroditische Konstrukte gehört. Weiblichkeit kommt mit dem Merkmal »Betretbarkeit« ins
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