Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)
auch, daß meine Lebensgeschichte sehr zeittypisch ist, eine Art Epochenbiographie. Ich weiß relativ viel vom Radikalismus, vom Extremismus, vom Wahnsinn und von den Traumata des 20. Jahrhunderts. Das ist ein einziges System von kommunizierenden Gefäßen des verstimmten Lebens. Deswegen bin ich von der Gegenwart so fasziniert, weil ich in meinem eigenen Lebensgefühl, aber auch in der Gesellschaft im ganzen etwas beobachte, was mich außerordentlich neugierig, vielleicht auch fröhlich macht. Ich meine nämlich, daß die Gesellschaft sich seit einer Weile klimatisch ändert und wir aus dem Wahnsinnsschatten, der seit 1914 über uns lag, heraustreten. Es gibt immer mehr Menschen, die nicht mehr direkt von diesen alten kommunizierenden Gefäßen des Wahnsinns erfaßt werden.
Schmidt: Die Gesellschaft therapiert sich?
Sloterdijk: Sie normalisiert sich, würde ich lieber sagen. Aber diese Normalisierung ist ein faszinierender und, im Falle der Deutschen, fast unheimlicher Vorgang. Denn die Frage, wasdeutsche Normalität ist, ist selbst nicht normal, weil wir alle nicht alt genug werden, um einen normalen Deutschen kennenzulernen. Jetzt ändern sich die deutschen Lebensformen und Grundstimmungen – und dabei ein wenig aktiv mitzuspielen ist eine Ambition, die mir gelegentlich kommt. Das ist vielleicht die einzige Ausnahme, die ich machen muß, von meiner negativen Antwort auf Ihre Frage, ob ich gelegentlich die Versuchung spüre, so etwas wie ein philosophischer National-Moderator zu werden. Ich möchte sehr gerne meinen Namen in Zusammenhang bringen mit einer umfassenden Normalisierungs-Geschichte für dieses bisher doch irgendwie kranke Land. Ich bin optimistisch genug zu glauben, daß der Gesundungsprozeß gelingen könnte.
Schmidt: An Ihren Auftritt als optimistisch gestimmter Erwartungsphilosoph wird man sich gewöhnen müssen. Als Verkünder des Katastrophen-Sarkasmus sind Sie also endgültig abgetreten?
Sloterdijk: Ich will bestätigen, daß es eine Veränderung der Grundhaltung gibt. Ausschlaggebend war dabei ein Faktor, der in meinem Leben bis dahin keine übergeordnete Rolle gespielt hat und der sich mit dem konventionellen Begriff der Verantwortung umschreiben läßt. Der Katastrophen-Sarkasmus war eine Widerspruchshaltung, eine Art schwarze Eulenspiegelei. Instinktiv war mir klar, daß auch Marx so etwas gemeint haben muß, als er davon sprach, daß man den Verhältnissen ihre eigene Melodie vorspielen muß, um sie zum Tanzen zu bringen. Das ist eine bittere Form revolutionärer Ohnmacht. Aus ihr entsprang dieser Katastrophen-Sarkasmus. Ich war befangen in einem Denkmuster, das aus der Therapiewelt bekannt ist, das jedoch auf einer menschlich und psychologisch falschen Kalkulation beruht, nämlich auf der Meinung, man könne die Verzweiflung instrumentell handhaben, nach dem Motto: Jetzt verzweifle ich erst mal, damit ich später ordentlich wiedergeboren werde. Diese Frivolität würde ich heute nicht mehr zulassen. Das war ein Kunstfehler, den ich nicht noch einmal begehen möchte.
Schmidt: Sie knüpften gewissermaßen an Ihre Vor-Adorno-Phase an.
Sloterdijk: Ich habe mich jedenfalls vom übertriebenen Kritizismus befreit und an eine sehr frühe Phase meiner Arbeit erinnert, in der ich von Autoren aus der protestantischen Tradition beeinflußt war, wie Kierkegaard und Bonhoeffer.
Schmidt: Im ersten Band Ihrer Trilogie Sphären haben Sie sich als eine Art Geburtshelfer, als Hebamme geoutet. Sie scheinen vom Thema »Geburt« überwältigt zu sein.
Sloterdijk: Ich gehöre zu den armen Menschen, bei denen die Geburtserinnerung nicht aus dem körperlichen Gedächtnis gelöscht ist; ich weiß, daß es eine bestimmte Form von Geburtsstreß gibt, der sich zeitlebens reproduziert.
Schmidt: Ihre Tochter ist mittlerweile sieben Jahre alt und sicher ein fragendes Kind. Wie erklären Sie ihr, was die Welt im Innersten zusammenhält?
Sloterdijk: Ich bin von der natürlichen Poesie ihrer Fragen beeindruckt. Aber ich werde nicht unter Druck gesetzt durch ihre Frageweise, weil sie – ich weiß nicht woher – einen eigenen poetischen Mechanismus mitbringt. Manchmal kommt es mir vor, als habe sie ein besonderes Beschwichtigungstalent, um abgründige Denkbewegungen rechtzeitig zu stoppen. Sie phantasiert in faszinierender Weise mythologisch und baut ihr Weltbild ständig um, ohne daß ihr ein vielwissender Vater oder eine allwissende Mutter die Lösungen vorgeben.
Schmidt: Wann haben Sie sich zum ersten Mal die
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