Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)
gewonnen und wer verloren hat, dann sind auch die Gespräche offen.
Schmidt: Was wollen Sie damit erreichen?
Sloterdijk: Was ich vorhabe, hat mit dem üblichen Talk-Show-Hickhack nichts zu tun und trägt nicht zur weiteren Mobilisierung eines Publikums bei, das sentimental, erregbar, grausam, vergeßlich und auf einzigartige Weise gutmütig und bösartig zugleich ist – ganz so wie einst bei den Menschenjagden im römischen Circus Maximus.
Schmidt: Eine Art Gegenfernsehen?
Sloterdijk: Philosophie im Fernsehen ist der Anti-Circus im Circus. Wir werden sehen, ob das gelingt.
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[ 8 ] Dieses Gespräch zwischen Peter Sloterdijk und Felix Schmidt erschien unter dem Titel »Ich weiß viel vom Wahnsinn« im Frankfurter Rundschau Magazin (30. Juni 2001, S. 18f.).
Felix Schmidt war Kulturchef des Spiegels , Chefredakteur von Welt am Sonntag , Stern und Hörzu , er wirkte als Fernsehdirektor beim Südwestfunk Baden-Baden und war zuletzt Geschäftsführer der Fernsehproduktionsgesellschaften AVE .
Über Reichtum und Selbstachtung
Im Gespräch mit Klaus Methfessel und Christian Ramthun [ 9 ]
Methfessel/Ramthun: Herr Professor Sloterdijk, vor zwei Jahren haben Sie – Stichwort Menschenpark – eine Gentechnikdebatte entfacht, die vornehmlich im Feuilleton stattfand. Begrüßen Sie es, daß sich nun die Politik dieses Themas annimmt?
Sloterdijk: Die Politik erfüllt damit nur ihre Rolle als Anbieter eines Normensystems in einem Prozeß der Deregulierung, der im Augenblick die Gesellschaft irritiert.
Methfessel/Ramthun: Wieso Deregulierung? Hier geht es doch um neue technische Möglichkeiten.
Sloterdijk: Richtig. Wir haben den Begriff Deregulierung meistens im Zusammenhang mit einer nachträglichen Entstaatlichung von Diensten zu verwenden gelernt. Aber Deregulierung ist ja sehr viel breiter zu fassen. Deregulierung durch Innovation ist im Grunde genommen unser Geschichtsmotor schlechthin. Die ganze Moderne ist ein riesenhaftes Experiment über die kulturelle Neueinführung von Techniken, die menschheitsgeschichtlich unerprobt sind.
Methfessel/Ramthun: Welche Position beziehen Sie? Vor zwei Jahren galten Sie bei einigen Kritikern als Befürworter der genetischen Eugenik.
Sloterdijk: Dies war, vorsichtig ausgedrückt, ein Mißverständnis. Für einen Philosophen kann es nie darum gehen, für oder gegen eine Technik zu sein, sondern allein darum, die Technik tiefer zu verstehen. Ich habe in meiner Rede »Regeln für den Menschenpark« dafür plädiert, den gentechnischen Megatrend auf verantwortbare Weise zu kanalisieren. Hierbei müssen wir uns am Prinzip Vorsicht orientieren.
Methfessel/Ramthun: Die Moral dominiert in der Gendebatte. Der Bundespräsident fürchtet um die Menschenwürde, der Bundeskanzler sieht dagegen die Chancen für die Erwerbsarbeit.
Sloterdijk: Es gibt nicht die eine und einzige Moral. Wir tun immer so, als wäre Moral das letzte Wort, das es nur im Singular gibt. Die Moral ist aber genauso pluralistisch wie die Gesellschaft.
Methfessel/Ramthun: Das klingt fast so, als sei Moral beliebig?
Sloterdijk: Nein, aber sie hat mehrere Wurzeln oder Quellen, aus denen unsere Normgebungen fließen. Das eine ist der Bereich der häuslichen Lebensform, sozusagen die Nahbereichsethik, die den Verkehr zwischen Menschen unter nachbarschaftlichen Kategorien ordnet. Die höchste Verallgemeinerung dieser Moralquelle ist der Humanismus, der sich gegenwärtig als Weltethos durchzusetzen versucht – ohne zuzugeben, daß er eigentlich nur ein Segment des moralischen Raumes interpretiert. Eine andere Quelle sind die Kunstlehren des Staates. Der Staat hat ein Aufgabengebiet sui generis. Seine Ordnungsleistungen sind nicht reduzierbar auf das verallgemeinerte Familienethos. Überdies haben die Moralen der asketischen Religionen wiederum eine eigenständige Quelle, die weder auf den Humanismus noch auf die Logik des Staates zurückzuführen ist.
Methfessel/Ramthun: Und die Quellen der Moralschöpfung geraten in der Gentechnikdebatte aneinander?
Sloterdijk: Das geschieht in dem Augenblick, in dem die Gesellschaft herausgefordert wird, über die wilde Neueinführung von gesellschaftlich umwälzenden großen Technologienzu diskutieren. Aus theoretischer Sicht leben wir inmitten einer phantastischen Welt, in der wir in einem laufenden Experiment mit verfolgen, wie das Gewebe der Wirklichkeit gewoben wird und wie eine Gesellschaft sich in einem fortgehenden Rechts- und Selbstfindungsprozeß selber neue Regeln
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