Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)
Frage gestellt, wie Weltraum, Erdball und Leben entstanden sind?
Sloterdijk: Ich weiß gar nicht, ob ich mir diese Frage jemals gestellt habe, weil die Antworten viel früher kamen als die Fragen.
Schmidt: Wie das?
Sloterdijk: Wie so viele Menschen, bin auch ich ein typisches Opfer der Schule, die permanent Fragen beantwortet, die noch nicht gestellt wurden. Doch kann man sich davon auch noch in fortgeschrittenen Jahren erholen. Im letzten Sommerhabe ich einen Augenblick naturphilosophischer Ergriffenheit erlebt, als ich diese wundervolle totale Sonnenfinsternis sah. Es stellte sich plötzlich ein physikalisches Wirklichkeitsgefühl in der naturphilosophischen Tonart ein. Bislang war mein Wirklichkeitsbegriff extrem humanistisch, sozialwissenschaftlich, linguistisch und kulturell definiert. Ich war davon überzeugt, daß sich eigentlich nur Käuze für Physik interessieren können. Heute denke ich eher, daß wir möglicherweise in unserem übermäßigen Kulturalismus physikblind geworden sind. Diesen staunend genossenen Augenblick der Sonnenfinsternis jedenfalls möchte ich als einen Ausnahmezustand beschreiben, von dem an sich bei mir etwas verändert.
Schmidt: Staunen ist ja ohnedies der Ursprung aller Philosophie.
Sloterdijk: Das ist wenigstens die Ursprungsthese von Aristoteles und Plato. Wenn man diese These genauer anschaut, ist sie sehr raffiniert gebaut und besagt eigentlich was ganz anderes, als man gemeinhin mit ihr verbindet. Menschen haben vermutlich schon Zehntausende Jahre lang gestaunt, ohne daß sie je in dem förmlichen Sinne wie die Griechen zu philosophieren begonnen hätten. Plato hat das Staunen und das Fragen zu einer eigenen Art von Wettbewerb weitergebildet. Er hat die Philosophie als Staun-Wettbewerb attraktiv gemacht hat. Wie man sich dumm stellt, so kann man sich staunend stellen – was bei vielen, nebenbei gesagt, dasselbe ist. Man stellt sich staunend und kann dann diese unnatürlichen Fragen entwickeln, die die Philosophen stellen.
Schmidt: Gab es in Ihrem Leben ein Schwanken zwischen der Philosophie und der Literatur?
Sloterdijk: Nein, zu keiner Zeit. Ich habe aber seit langem das Bedürfnis, den Akzent zu wechseln und zum erzählerischen Genre überzugehen. Das ist die Form, die ich heute als freier Sätzemacher brauche, um zu realisieren, was mir vorschwebt.
Schmidt: Also bleiben Sie ein Grenzgänger zwischen Philosophie und Literatur, zwischen den Künsten und der Wissenschaft.
Sloterdijk: Ich bin sicher, daß es so bleibt. Mir wäre es aber lieb, wenn die Gruppe derer, die nicht nur das fachlich Ernsthafte, sondern auch das im Sinn des philosophischen Metiers Gutgemachte anerkennen können, ein bißchen größer wäre. Ich glaube, meine Arbeit ist an einem Punkt angekommen, wo sie ohne ein bestimmtes Maß an Mithilfe von kompetenten Leuten nicht vorankommt.
Schmidt: Dazu könnte es ja kommen, wenn Sie, wie geplant, demnächst eine eigene Gesprächssendung im ZDF , eine Art Philosophisches Quartett , moderieren. Ist das Orientierungshilfe mittels eines Fernsehkollegs, etwas, worin die labile Menschheit Halt und Trost findet?
Sloterdijk: Ich würde es eine Nuance vorsichtiger formulieren, obwohl ich das Verlangen nach Orientierung für absolut legitim halte. Im Augenblick kann man sich begnügen mit der Nietzscheschen Definition der Philosophie als Projekt, »der Dummheit zu schaden«. Das ist mein Einsatz bei einem solchen Versuch, philosophische Gespräche in einem zunächst einmal völlig ungeeigneten oder geradezu gegenweltlichen Medium zu plazieren. Wichtig ist, daß ein wirklich lehrreiches und erheiterndes und für die Intelligenz fruchtbares Milieu erzeugt wird; erzeugt nur durch die Tatsache, daß es überhaupt geschieht.
Schmidt: Befürchten Sie nicht, mit diesem Philosophikum im Massenmedium Fernsehen selbst einen Beitrag zu jener Mediatisierung der Gesellschaft zu leisten, die Sie mit der »öffentlichen Erniedrigung in den Arenen des alten Rom« verglichen haben?
Sloterdijk: Ich werde eben nicht dazu beitragen, die totalitäre massenmediale Arena noch weiter zu schließen. Ich möchte eine Form von Öffentlichkeitskultur fördern, in der es nie um die Unterscheidung von Siegern und Verlierern geht, sondern im Gegenteil um einen immer weiter gehenden Aufschub dieser Unterscheidung. Es geht darum, Siegerwahrheit und Verliererwahrheit wieder miteinander zu vermischen und auf die Weise eine wirkliche Perspektiven-Öffnung zu erzwingen. Wennman nicht weiß, wer
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