Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)
Schultüren vor Wirtschaft, Mode undsonstigen Terrorbringern schließen und wieder einen Lebensraum aufbauen, in dem Menschen mit ihrer eigenen Intelligenz in ein libidinöses Verhältnis treten. Was man am Kleinkind deutlich sieht, geht dem Schulkind in der Regel verloren. Die Rettung der kognitiven Libido müßte das Kernprojekt der Schule werden.
Kahl: Schule als Raum dichter, gewissermaßen schwangerer Atmosphären? Zu begreifen, was Sphären sind, und nicht bei geronnenen Substanzen, wie dem Wissen, stehenzubleiben, das ist ja seit Jahren Ihr Thema.
Sloterdijk: Ich versuche in meiner Theorie der Enthusiasmen, also der Gemeingeister, überspannte romantisch-nationalistische Konzepte auf die Ebene der konkreten Gruppen herunterzufahren. Schulen müssen Internate werden! Nicht im Wortsinn natürlich, vielmehr in dem Sinne, daß der eigenwertige Charakter des Schülerlebens hervorgekehrt wird. Ich selber erlebe das bei meiner Tochter, die das Glück hat, sich in einer vorzüglichen Schulsituation zu bewegen. Bei ihr sieht man deutlich, was es heißt, sich in einem Begeisterungsraum aufhalten zu können.
Kahl: In welche Klasse geht sie?
Sloterdijk: Sie geht in die 2. Klasse des Montessorizweiges einer gewöhnlichen Grundschule. Da sieht man, wie eine andere Klimapolitik eine andere Sprache mit den Schülern und auch der Schüler untereinander hervorruft. Dort wird die Lernlibido als das eigentliche Kapital vorausgesetzt. Die Kinder tragen ihre Neugier, ihre Begeisterung, dieses unschätzbare Medium der Vorfreude auf sich selbst, in den Lernvorgang hinein. Diese Vorfreude auf den nächsten eigenen Zustand ist das, worauf es ankommt. Eine Didaktik, die das respektiert, arbeitet ganz anders und mit besseren Erfolgen als eine Schule, in der die Pädagogen mit der Haltung auftreten: Ihr werdet euch noch wundern, und ich bin der, der es euch noch zeigen wird.
Kahl: Da gedeiht der böse Blick, der wohl etwas mit den Enttäuschungen von Lehrpersonen zu tun hat, die vom 6. bis65. Lebensjahr im Grunde Schüler sind. Das ist doch eine Kränkung.
Sloterdijk: Ich glaube, es ist an der Zeit, die Arbeit, die Nietzsche für den Priester gemacht hat, für den Lehrer weiterzuführen. Der Lehrer ist eine unterkritisierte Instanz, er hat Anspruch auf eine befreiende und vernichtende Kritik. Zugleich macht man den Lehrern meistens die falschen Vorwürfe.
Kahl: Zum Beispiel den Faulheitsvorwurf.
Sloterdijk: Der ist selber faul.
Kahl: Er mag für manche gelten, die sich faktisch schon zur Ruhe gesetzt haben, häufig als Resultat von Überforderung. Aber ist der Lehrerberuf nicht strukturell eine Überforderungsfalle?
Sloterdijk: Deshalb muß man Lehrern mit einer adäquaten Kritik helfen. Die Analyse von berufsspezifischen Kränkungen und Erfahrungen des Scheiterns ist so nötig wie die Analyse des Ressentiments gegen den Beruf. Das wäre Aufklärung der wertvollsten Art. Man muß sich mit Lehrern zur Erneuerung der Schule von ihrer starken Stelle her verbünden. Wo liegt ihr regenerierbarer, enthusiastischer Quellpunkt? Sie muß stark auftreten und sagen: Hier bieten wir Chancen, hier ist unser Wissen, hier ist unsere Lebenskunst – zu alledem laden wir ein. Die Geste der Einladung ist vielleicht das Wichtigste. Durch sie werden die Schulen sozusagen Gästehäuser des Wissens und Ausflugsziele für die Intelligenz.
Kahl: Ende einer Pflichtschule, die wie ein absurdes Restaurant auf Zwangsernährung mit Aufeßzwang besteht?
Sloterdijk: Wir müssen mit dem schädlichsten aller alteuropäischen Konzepte brechen: mit der Vorstellung der Übertragung von Wissen. Diese Vorstellung des Einflößens ist systemtheoretisch falsch, sie ist moralisch falsch …
Kahl: … kognitionspsychologisch nicht haltbar …
Sloterdijk: … und trotzdem ist die Schule um diese Idee herum gebaut, um diesen wahrhaft verfluchten und schädlichen Übertragungsgedanken.
Kahl: Immer noch werden Hostien verteilt.
Sloterdijk: Auf diese perverse Kommunion geht die Institution zurück: Wir haben und wir teilen aus. Doch so funktioniert das Lernen gerade nicht. Man muß respektieren, daß wir es immer mit Menschen zu tun haben, die jeweils in ihrer Weise fertig sind. Bis hierher vollkommen und ohne wirklichen Mangel. Der nächste Zustand kann nur aus den Eigenleistungen dessen, was schon fertig ist, aufgebaut werden. Dabei kann ein Lehrer eigentlich nur stören, es sei denn, er wird so etwas wie ein Gastgeber, ein Trainer oder – im guten Sinne – ein
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