Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)
heute Situationen für junge Menschen, in denen sie alles an der Hand haben und auf nichts Lust. Wir verlieren mehr als zehn Jahre im primären Erziehungsprozeß, die Besseren brauchen dann noch mal zehn Jahre, um sich nach dem ersten Bildungsweg auf einem zweiten wieder selbst zu finden. Dann haben wir, wenn alles sehr gut geht, einen originellen 30-jährigen, der nach Schule und Regeneration einen eigenen Lebenslauf als atmosphärisch-schöpferischer Mensch antreten kann.
Kahl: Für die meisten Menschen hierzulande ist es ein fremder Gedanke, daß von Atmosphären in Institutionen und um Menschen alles andere abhängt.
Sloterdijk: Das Problem stellt sich in Deutschland verschärft. Die Katastrophe des Nationalsozialismus, mit diesen ungeheuren Perversionen der kollektiven Begeisterung, hat bei uns eine Superabstinenz von kommunitarischen Energien zur Folge gehabt. In der französischen Kultur, in der angelsächsischen, auch in den USA steht das Schulsystem klimatisch unter anderen Vorzeichen. Dort ist der Zusammenhang zwischen der Institution und den animierenden Gemeingeistern viel deutlicher ausgeprägt. Wir haben bei uns eine sehr stark bürokratisierte Schulatmosphäre, immer verbunden mit Resignation und dogmatischer Skepsis.
Kahl: Die deutsche Option, lieber Opfer sein zu wollen, bloß kein Handelnder, weil der ja Täter sein könnte, ist in Lehrerzimmern besonders verbreitet.
Sloterdijk: Da gibt es nicht nur eine Opferpassion, sondern auch eine Opferdidaktik und eine Opfersimulation. Wir hatten es hier an unserer Hochschule kürzlich mit den Problem zu tun, daß einzelne Studenten aufgrund eines Umbaus in einzelnen Studienfächern gewisse Einschränkungen und Behinderungen haben hinnehmen müssen.
Kahl: Sie reden jetzt von der Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe, zu deren Rektor Sie in diesem Jahr gewählt wurden.
Sloterdijk: Richtig. Was passiert? 120 Studenten stellen den Antrag, daß ihnen zwei Semester ihres Studiums gutgeschrieben werden, weil sie sich als Opfer des Umzugs in das neue Haus fühlen, der ihnen eines der großartigsten Hochschulgebäude Europas zur Verfügung stellt, um von einem der besten Lehrkörper und von märchenhaft günstigen Lehrer-Schüler-Proportionen zu schweigen. Die Verführung, das eigene Leben im Licht von Benachteiligungen zu beschreiben, ist inzwischen so stark, daß schon junge Leute dieses rentnerhafte, resignierte Verhalten in Verbindung mit aggressivem, moralischem Fordern wie eine neue Selbstverständlichkeit entwickelt haben. Man müßte im Gegenteil versuchen, ihnen die Idee des unternehmerischen Lebens nahezubringen, damit sie nicht mit zwölf Jahren schon wie Sozialversicherungsnehmer dastehen. Die Opferhysterie knüpft ohnedies bei kindlichen Mustern an – an schauspielerischen Übertreibungen von kleinen Verletzungen.
Kahl: Das Findelkind, ausgesetzt, ganz allein in der Welt.
Sloterdijk: Verraten von allen, und außerdem sind meine Eltern gar nicht meine wirklichen Eltern. Meine Lehrer sind nicht meine wirklichen Lehrer. Ich bin von allen aufgegeben. Ich suche nur den Briefkasten, in den ich meinen Beschwerdebrief einwerfen kann …
Kahl: … den Kummerkasten …
Sloterdijk: … den Weltkummerkasten. Diese Haltung kann man nur korrigieren, wenn man eine Verschwörung des besseren Wissens in Gang setzt. Von der Philosophie, von der Literatur und Kunst her muß diese Ära zu Grabe getragen werden, in der wir jetzt 50, 60 Jahre lang als Mustervolk der kollektiven Depression unsere Hausaufgaben abgeliefert haben. Wir stehen am Anfang eines Generationenwechsels. Der sollte offensiv interpretiert werden.
Kahl: Könnte eine neue Bildungsdebatte dafür nicht ein Medium werden? Man müßte das Bild der »Vorfreude auf sich selbst«, als Seele von Lernprozessen, auf die Gesellschaft übertragen.
Sloterdijk: Ja, wir sollten diese Debatte führen, denn Gesellschaften haben keine Mitte und kein Ich, sie haben nur die Öffentlichkeit als Medium für Selbstalarm und Selbstirritation. Wir müssen uns endlich von dem gefährlichen Phantasma trennen, das das 20. Jahrhundert in Katastrophen getrieben hat, die Vorstellung, daß die Gesellschaft an irgendeiner Stelle ganz sie selber ist. Das Führerdelirium ist ja nichts anderes als die politische Interpretation eines Denkfehlers, den unsere Kultur seit jeher gern begangen hat, nämlich: daß sie an einer Stelle ganz bei sich sein könne. Diese Einsicht ist der Eintritt, den man zahlen muß, wenn man in die zweite
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