Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)
Kränkungen durchgemacht hat – dann kriegt man sein narzißtisches Abiturzeugnis. Die Botschaft heißt: Was immer du von dir selber halten magst, so wichtig bist du nicht. An solche Examen erinnert man sich nicht gern.
Kahl: In der alten Schule, in der man angeblich fürs Leben lernt, hat man die Erfahrung gemacht, ein Rädchen in einer großen Maschine zu sein. Die Gegenbewegung, »macht mal, was ihr wollt«, hat auch nicht weit geführt. Wir haben heute Schüler, die am Ende keine Idee davon haben, was sie wollen.
Sloterdijk: Das hat zweifellos damit zu tun, daß die Pädagogen heute selber nicht wissen, wozu sie Kinder erziehen. Die Desorientierung der modernen Gesellschaft über ihre eigene Ziele spiegelt sich im Irritationssystem Schule so deutlich ab wie nirgendwo sonst – ausgenommen vielleicht den Bereich der bildenden Künste, die ja auch ein großes Welttheater der Verstörung sind. Schule und Kunstbetrieb sind thematische Nervensysteme der Gesellschaft, in denen sich die Verwirrung über die Frage, wie es mit ihr weitergeht, sehr klar artikuliert. Lehrer können im Durchschnitt nicht anders sein als die Gesellschaft, der sie entstammen.
Kahl: Vor 20, 30 Jahren haben viele gesagt: ich will dort wirksam werden, wo man am langen Hebel der Gesellschaftsveränderung sitzt, und werde Lehrer. Inzwischen gibt es für Leute, die Ideen haben, viele andere Möglichkeiten. Der Lehrerberuf wird zur zweiten Wahl. Wie sollen Lebensflüchtlinge gegenüber der nächsten Generation die Welt vertreten?
Sloterdijk: Lehrer sind Leute, die oft glauben, es sei allemal besser, etwas zu erklären, als etwas zu tun. Die feige und die theoretische Lebensentscheidung konvergieren nicht notwendigerweise, aber häufig. Das führt zu Schulen als psychosozialem Biotop mit einer untypischen Dichte aus zögernden, privatisierenden, untermotivierten Menschen. Darauf kann man nur mit der Entprofessionalisierung der Schule reagieren. Man muß ihre Sozialkompetenz intensivieren und sie nach der sachlichen Seite hin freilassen. Es stellt sich ja immer deutlicher heraus, daß man an den Kern des Lernens mit den klassisch schulischen Mitteln nicht herankommt. Alle Leute, die in der Schule was geworden sind, sind es eigentlich nicht durch die Schule geworden, sondern weil die Schule sie nicht dabei gestört hat. Sie hat, wenn es gutging, Schutz geboten, unter dem intensive Lernprozesse, die immer autodidaktischer Natur sind, gedeihen konnten. Unter dem Deckmantel der Didaktik kann sich das Autodidaktische zeitweilig entfalten. Ich glaube aber, diese Konstellation ist aus ihrem Optimum herausgerückt. Man müßte für die Autodidaktik neue optimaleSituationen schaffen. Die Schule gehört wahrscheinlich nicht mehr zu diesen Optima.
Kahl: Sind belehrende Lehrer – es gibt auch andere – heute nicht Repräsentanten einer dahinsiechenden Priesterklasse? Wer sonst glaubt noch, Wissen von oben nach unten abseilen zu können?
Sloterdijk: Priestertum: das ist eine überzeugende Analogie. Heute stehen Armeen von Weltklerikern ihren Schäfchen gegenüber und appellieren an das Gute im Menschen. Dabei machen sie die Entdeckung, daß sich das Böse erst recht als Antwort auf ihre Appelle bildet. Man fragt sich dann mit falscher Naivität, was hier schiefläuft.
Kahl: Lehrer bringen kein neues Wissen »von unten« hervor. Ihnen fehlt die Wechselwirkung von Handlung und Erfahrung.
Sloterdijk: Lehrer leben mit falschen Selbstbeschreibungen, und das mehr als jede andere Gruppe in der Gesellschaft, es sei denn, sie sind Nihilisten, die wissen, was sie tun, und trotzdem dabeibleiben. Der Nihilist ist immer am Ziel jeder möglichen Aufklärung. Er steht schon auf der Grundlinie einer totalen Illusionslosigkeit über sich selbst und über andere. Er denkt und handelt aus der schädigenden Annahme, daß die Entropie immer siegt. Genau dagegen kämpfen wir auf der kreativen Seite seit jeher mit den Mitteln der Kunst und der Philosophie. Es geht darum, Menschen in Begeisterungszusammenhänge zu ziehen.
Kahl: Also der Schule noch mal eine Chance geben! Wie könnte sie ein Ort, ja ein Treibhaus für autodidaktische Experimente werden? Der aus eigenem Antrieb Lernende ist ja kein Autist. Er braucht andere, die ihn anstecken, die neugierig sind, aber ihn nicht belehren oder nur kalt ihren Stoff »vermitteln«.
Sloterdijk: Ja, eine Schule, die den Eigensinn junger Menschen betont und sie nicht im Blick auf den »Ernstfall« kolonialisiert. Wir müssen die
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