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Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)

Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)

Titel: Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
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Verführer, der dort schon ist, wohin der nächste Schritt des Kindes führt. In solchen Gästehäusern könnte der pädagogische Pakt aus dem Prinzip Vorfreude geschlossen werden. Ich beobachte das mit Faszination bei meiner Tochter. Schon mit zwei Jahren ist sie mir aufgefallen als ein Mensch, der etwas hat, das ich bisher nirgendwo adäquat dargestellt gefunden habe, weder in der Psychoanalyse noch in irgendeiner anderen psychologischen Beschreibung. Ich habe bei ihr die Entdeckung gemacht, daß die Libido des Wachtums sich darin manifestiert, daß sie sich auf ihren nächsten Zustand freut. Sie freut sich ihres eigenen Werdens. Es ist, als ob sie eine Art Grubenlampe auf dem Kopf trägt, die ihr den nächsten Abschnitt des Lebens auf diskrete und immer vielversprechende Weise anleuchtet. Sie sieht immer Licht am Ende des Tunnels, es ist das Licht aus ihrem eigenen Projektor.
    Kahl: Welches Drama, wenn die Grubenlampe ausgeblasen wird und nur der Oberbeleuchter am Set das Licht ein- oder ausschaltet! Vielleicht war ja dieses Ausblasen des eigenen Lichts ein Systemzwang des altindustriellen Kapitalismus, gegen den vergebens rebelliert wurde. Heute können auch Unternehmen mit erloschenen Lichtern immer weniger anfangen. Als Konsumenten schon, aber nicht in der Rolle von »Mitarbeitern«.
    Sloterdijk: Mit dieser dynamischen Libido, die das eigene Werdenkönnen ausleuchtet, müßte sich die Pädagogik wieder verbünden. Statt dessen höre ich, daß in Karlsruhe Mitarbeiter des Arbeitsamtes in die Schulen gehen, eingeladen von Deutschlehrern, um Schülern beizubringen, wie man Anträge auf Arbeitslosenunterstützung ausfüllt. Ich weiß, das ist ein extremes Beispiel, aber es macht deutlich, wo bei uns das Problem liegt. Viele Lehrer betreiben Entmutigungsdidaktik, wenn sie als Bildner von schlechtem Klima wirken. Das tun sie oft, auch ohne es zu wollen, wenn sie heimlich ihr eigenes Scheitern oder ihr Selbstmitleid auf ihre jungen Klienten übertragen.
    Kahl: Dann kommen Kleinkrieg und Machtkampf auf.
    Sloterdijk: Dann kommt vor allem die latente Botschaft durch: »Ihr werdet euch noch wundern. Ich selbst wundere mich schon lange nicht mehr.« Mit diesen beiden tödlichen Informationen wird man zum Klimaschädiger erster Größenordnung. Man müsste die Kinder durch ein eigenes Emissionsschutzgesetz gegen Erwachsenenpessimismus schützen. Aber um noch mal von meiner Tochter zu sprechen, die sich wirklich in einer Ausnahmesituation bewegen darf: Sie hat einen Lehrer, der auf verblüffende Weise an diesem generativen Pol der Freude arbeitet. Wie ein guter Dämon verbündet er sich mit der Lernliebe der Kinder. Er hat ein Leuchten, wenn er das Leuchten im Gesicht der Kinder sieht. Das ist überwältigend, und es setzt einen Maßstab. Dann aber kommen die Eltern mit ihrem Realismuskonzept, mit ihrem Pessimismus und mit ihren Angstprojektionen und versuchen, diesen Raum didaktischer Wunder klein zu halten und von außen zu kolonisieren.
    Kahl: Was sagen denn die Eltern?
    Sloterdijk: »Geben Sie nicht den Kindern ein falsches Bild vom Leben?« »Könnten Sie nicht etwas mehr Struktur einbringen?« »Könnten Sie nicht ein bißchen strenger sein?« In solchen Äußerungen erkennt man, wie die »Realisten« versuchen, ihr Klimamonopol durchzusetzen. Im Widerspruch dazu müssen wir ein Gegenklima schaffen. Ich verstehe mich in meiner Arbeit als Hochschullehrer und Schriftsteller im Grunde vor allem als ein Sphärenbildner und Atmosphärendidaktiker. Was Menschen lernen, ist zunächst einmal nicht so wichtig; viel bedeutender ist die Tatsache, daß sie in ein Klima eintreten, indem ihnen das Lernenkönnen als solches als die beste Chance ihres Lebens bewußt wird. Diese klimabildnerische Arbeit, die manche als ungerechtfertigten Schamanimus angreifen, ist nach meiner Meinung für die moralische Regeneration unseres Gemeinwesens unentbehrlich.
    Kahl: Wenn es gelingt, trächtige Atmosphären anzusetzen, könnte sich etwas auskristallisieren, das man nie erlebt, wenn nur Standardkristalle aufs Pult gelegt und die besonderen Atmosphären dem Reinheitsgebot geopfert werden.
    Sloterdijk: Dann breitet sich das Gift der Langeweile aus. Die Schule ist ein Herd der Langeweile und wird von Berufslangweilern betrieben, die die kindliche Intelligenz verleimen, verkleben und beleidigen. Viele erholen sich davon nie. Das ist die wirkliche Bildungskatastrophe. Atmosphären müssen endlich als das Allerrealste begriffen werden. Wir erzeugen

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