Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)
Wirtschaftswoche .
Lernen ist Vorfreude auf sich selbst
Im Gespräch mit Reinhard Kahl [ 10 ]
Kahl: Eine neue Bildungsdebatte liegt in der Luft. Was braut sich da zusammen?
Sloterdijk: In der Luft liegt ein Irritationspotential für die ganze Gesellschaft. Man kann es mit Schmerzen im Körperempfinden des Individuums vergleichen. Debatten und Skandale bilden ein thematisches Nervensystem, über das die Gesellschaft sich wahrnimmt.
Kahl: Bildungsdebatten könnten eine Selbsterkundung der Gesellschaft sein. Aber im letzten Moment bricht die anschwellende Debatte häufig ab. Warum?
Sloterdijk: Gewöhnlich versuchen wir Bildungsfragen zu verdrängen. Sie gehören zu den unangenehmsten Themen. Mit ihnen verglichen ist das Krankenhauswesen geradezu angenehm und faszinierend, wie die Massenmedien deutlich zeigen. Wir haben endlose Serien von Krankenhaus- und Chefarztfilmen. Diese Herren in Grün, die an Körpern herumschneiden, sind zu Helden geworden. Intuitiv würde man sagen, das kann doch nicht wahr sein – etwas so Unangenehmes wie einen Operationssaal möchte man doch nicht abends im Wohnzimmer sehen. Aber nein, man möchte. Das wirklich Unangenehme ist die Schule.
Kahl: Es gibt jetzt auch Schulsoaps im Fernsehen. Aber wasin der Krankenhausserie der OP ist, kommt in der Schulserie nicht vor, Unterricht und Prüfungen.
Sloterdijk: Schulprüfungen sind so unangenehm, weil sie für zahlreiche Menschen Ähnlichkeit mit der Geburt haben. In Schulen werden Menschen nicht neun Monate interniert, aber mindestens neun Jahre weitergebrütet. Dann müssen sie sich in Klausuren, also geschlossenen Situationen, herauskämpfen. Moderne Menschen wollen nichts davon wissen, daß sie jemals eingesperrt waren.
Kahl: Die Schule wird nicht als vorgeburtliches Paradies empfunden, das wäre auch zuviel verlangt, aber auch nicht als das freudige Ereignis des Zur-Welt-Kommens. Schule als Druck im Geburtskanal?
Sloterdijk: Schule ist das, was man für immer hinter sich haben möchte. Man wirft nur selten einen freundlichen Blick auf sie zurück.
Kahl: Das war in dieser Schärfe nicht immer so.
Sloterdijk: Die Schulromantik, noch in der berühmten Feuerzangenbowle, läßt Erinnerungen an Noch-nicht-Ernstfall-Situationen anklingen. Heute ist die Schule ein Ernstfall eigener Art geworden.
Kahl: Ein merkwürdiger Ernstfall, ein Manöver, bei dem mit scharfer Munition geschossen wird. Resonanzen auf folgenreiches Handelns hingegen fehlen. Die Schule setzt eine Ernstfallgrimasse auf und behauptet, »das alles verlangt das spätere Leben«.
Sloterdijk: Der berühmte Satz, daß wir nicht für die Schule, sondern für das Leben lernen, war von Anfang an eine Schutzbehauptung. Die ursprüngliche Schule hat den Schülern erlaubt, für die Schule zu lernen, denn für das Leben mußte man nach griechisch-römischer Auffassung nicht lernen. Das Leben ist sein eigener Lehrer, es erklärt sich selbst. Schule bedeutet hingegen bei den Griechen Muße, und die Muße galt als die Quintessenz des Lebens. Witzigerweise haben die Griechen ihr Wort für »arbeiten« oder »Geschäften nachgehen« ausder Verneinung des Worts »müßiggehen« gebildet. Wer für die Muße lernt, übt eine freie Tätigkeit aus.
Kahl: Wie wurde aus dem Eigenwert einer Muße-Bildung ein Mittel für andere Zwecke?
Sloterdijk: Mit der Indienstnahme der Schule durch den modernen Nationalstaat wandert das Prinzip Ernstfall in das schulische Lernen ein. Es wird präprofessionell: Man bereitet sich in der Schule auf Berufstätigkeiten vor. Der deutsche Bildungsbegriff, wie er vom preußischen Neohumanismus um 1800 geformt wurde, versucht noch das klassische und das moderne Konzept in Balance zu bringen: Man lernt für die Schule und das Leben. Schon steht die Arbeitsgesellschaft vor den Türen, aber die Schule behauptet sich noch als Lebensform eigenen Rechts. Die Feuerzangenbowle ist das Symbol für diesen Kompromiss. Inzwischen ist die Einwanderung des Ernstfalls in die Klassenzimmer viel weiter fortgeschritten, wir werden keine neuen Feuerzangenbowlen mehr sehen.
Kahl: Für die meisten Menschen hat die Schule etwas Traumatisches. Was ist das? Sie sprachen von der Geburtsanalogie. Verbreitet die Schule ein Gefühl, nicht willkommen zu sein?
Sloterdijk: Vielleicht. Die Schule ist für die meisten Kinder heute die Initiation in eine Lage, in der sie spüren, daß es auf sie nicht ankommt. Sie ist ein Impfprogramm, bei dem Kränkungen verabreicht werden, bis man alle
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