Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)
katholischer Aas-Romantik. In unserem Kontext möchte ich das Gemälde am ehesten als einen Hinweis auf die symbolische Ökonomie der Metaphysik lesen. Wer den Menschen zwischen Oben und Unten einordnen möchte, muß zuweilen auch die Grenze, die ihn vom Oberen trennt, mit aller Drastik zeigen. Ohne Rhetorik des Todes ist das Bild der Großen Ordnung nicht zu haben.
Macho: Wie du es beschreibst, steht dieses Gemälde vermutlich in der großartigen Tradition der Totentänze, in denen Bild für Bild – wie in einem frühneuzeitlichen Comic – vorgeführt wurde, wie alle Menschen, gleichgültig welcher Herkunft oder welchen Standes, vom Tod, noch besser: von den Toten weggeschleppt werden. In den Totentänzen wird ein Egalitarismus der Sterblichkeit direkt ausgesprochen, beispielsweise in dem Vers: »Der Tod erwürget alle gleich / wie er sie findet, arm und reich«. Ein solcher Egalitarismus versperrt gleichsam die Grenze nach oben und hält den Menschen in der Mittelposition fest. Diese Befestigung der Grenze nach oben verringerte wohl auch die Angst vor einer Überschreitung der Grenze nach unten, zu den Tieren. Erst in dem Moment, in dem die Grenze nach oben geöffnet wurde (beispielsweise bei Herder, der mehr als hundertfünfzig Jahre vor Teilhard de Chardin von einer Evolution zur »Noosphäre«, der Verwandlung der Menschen in reine »Geistwesen«, träumte), konnten auch die Risiken der Animalisierung, der Bestialisierung, neu beschworen werden. Sobald die Grenze nach oben freigegeben wird für Entwicklung und Mutation, entsteht auch die Angst vor dem Rückfall und vor der Regression. Und oft sind es dieselben Denker, die eine Entwicklung nach oben postulieren und zugleich die Sorge vor der Tierwerdung artikulieren: »Dialektikder Aufklärung«. Ich vermute, daß erst in diesem Moment das humanistische Angstprogramm seine Bedeutung gewinnt, in dem der Miserabilismus stets mit dem Rückfall in die Bestialität in Zusammenhang gebracht wird; es ist derselbe Moment, in dem die Erziehung als Dressur, als Abrichtung, als Zähmung ausgelegt wird – wie Du in Deiner Antwort auf Heideggers Humanismusbrief geschrieben hast. Solange der Mensch als Mittelwesen gedacht wird, kann er nur in zwei möglichen Richtungen abweichen, in Richtung der Bestialisierung oder in Richtung der Hybris, sprich Usurpation einer übermenschlichen Position. Das ethische Programm der Griechen hatte darin sein Zentrum: Hybris sollte vermieden werden, auch weil sie grundsätzlich immer scheitert.
Sloterdijk: Ihr Scheitern wird also in den Totentänzen und verwandten ikonographischen Formen makaber kommentiert. Der Tod ist der große Hybristherapeut, er stellt die ursprünglichen Verhältnisse wieder her, indem er dafür sorgt, daß die Menschenbäume nicht in den Himmel wachsen. Auch Lotario de Segni läßt den Tod und seine Vorbotin, die miseria , sozusagen als Levelers auftreten. Beide sorgen dafür, daß Herr und Knecht summa summarum gleich elend sind, mögen sich auch ihre Elendsarten ständespezifisch stark voneinander unterscheiden. Beide haben am Ende gleich viel auf ihrem Miserekonto.
Macho: Eine schöne Formulierung.
Sloterdijk: Am interessantesten wird dieser Topos aber, wenn das Klagen über die conditio humana als Miserabilismus von oben auftaucht. Ich beendete dieser Tage die Lektüre einer Sammlung von Briefen der Marquise von Pompadour, der Maitresse und Beraterin Ludwigs XV . Dabei stieß ich auf ein Dokument, in dem sie gegenüber einer Freundin den hochherrschaftlichen Seufzer ausstößt, der Stallknecht sei eigentlich glücklicher als der Herr – worauf ihr die Empfängerin antwortet, dies könne wohl nicht ganz wahr sein. Was die Pompadour im Sinn hat, ist eine Art von höfischer vanitas -Theorie: In einem ihrer großartigsten Briefe, adressiert an Montesquieu –einem Text von Weltliteraturrang –, hält sie formvollendet seufzend dem Philosophen vor, sie sei am Hofe nur von Automaten umgeben. Wir haben geglaubt, Entfremdungskritik sei ein Nebenprodukt des deutschen Idealismus – aber offenkundig gibt es einen französischen Pfad zur Entfremdungskritik, und zwar bereits um 1750, in Gestalt von Kritik an Höflings-Automaten. Die deutsche Kritik beklagt den Verlust der Seele, während die Franzosen feststellen, daß Automaten eine Seele weder besitzen noch brauchen. Aber um noch einmal auf das Problem von vorhin zurückzukommen: Wir wollten wissen, unter welchen Bedingungen der homo patiens die Bühne verläßt, um
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