Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)
Auch das bekannte »Erkenne dich selbst« muß man ja wohl in diesem Sinn übersetzen: Halte dich gefälligst an die Mitte, verwechsle dich nicht mit den Tieren und erst recht nicht mit den Göttern. Die Griechen entwickelten eine Kunst, mit eindeutig hybrisgefährdeten Wesen zu reden, das heißt mit Geschöpfen, die dazu tendieren, aus ihrem Rang, ihrer Klasse, ihrem Genus zu springen.
Macho: Das erscheint mir sehr wichtig. Wenn der Mensch das Wesen in der Mitte ist, sind auch den Bemühungen um seine Verbesserung sehr enge Grenzen gesetzt. Mir ist übrigens aufgefallen, daß sogar in den humanistischen Texten, in denen die Bildbarkeit des Menschen zuerst ganz explizit gedacht wird, zum Beispiel bei Pico della Mirandola, die Perfektionierung des Menschen nicht so ausdrücklich gefordert wird; deutlicher wird das Risiko beschrieben, das der Hybris, einer Überschreitung der Mittelstellung nach unten (zur Bestialität) oder nach oben (zur angemaßten Göttlichkeit), entspringt.
Sloterdijk: Wobei die Empfehlung, sich nach oben zu verbessern, bei Pico doch deutlich mitklingt. Wenn er den Menschen als plastes et fictor anspricht, appelliert er an sein autoplastisches, selbstschöpferisches Talent. Folglich soll homo sapiens aus sich etwas möglichst Gottähnliches machen – der Drang nach oben ist in diesem frühhumanistisch-alchemistischen Diskurs unverkennbar. Wenn man hier von Mittellage spricht, so bezeichnet das den Ausgangspunkt einer Selbstwahl, von der man hofft, sie werde nach dem Höchsten greifen. Aber das bleibt die Ausnahme. Im allgemeinen dominieren die strikten Einordnungs-Theorien, die wirklich Mitte meinen, wenn sie Mitte sagen. Für sie ist der Gedanke an die conditio humana , recht verstanden, eine Mahnung zur humilitas : Der wahrhaft Demütige ordnet sich eher in der unteren Mitte ein. Im übrigen gibt es auch in der aktuellen Gentechnik-Debatte eine sehr laut vernehmliche humilitas -Partei, die darauf besteht, daß wir erstens nicht können, was wir wollen, und zweitens nicht dürfen, was wir können. Die moderne superbia- oder Hybris-Partei setzt hingegen offen auf genetische Optimierung. Aber was heißt Optimierung und wie läßt sie sich denken? Schon der Begriff als solcher hat nur Sinn, wenn es für homo sapiens keine feste Position zwischen Oben und Unten mehr gibt. In diesem Fall werden die Erinnerung an die conditio humana und das Predigen der humilitas zu konservativen, wenn nicht reaktionären Gesten – weil doch der Mensch, der aus der metaphysischen Mittellage entlassen ist, sofern er seine Lage recht versteht, zur Selbstverbesserung verdammt ist. Entlassen sein heißt hier: das Leben in der Immanenz als letzte Chance auffassen müssen. Dadurch wird eine Art metaphysischer Panik ausgelöst – denn wem sein irdisches Leben mißlingt, dem mißlingt nicht weniger als alles. Eben das macht den enormen Unterschied zwischen dem Weltalter der klassischen personalistischen Metaphysik und der Moderne aus. Die Bewohner der von einer Überwelt ergänzten Welt durften denken und glauben, daß vor Gott der Unterschied zwischen dem irdisch erfolgreichsten und dem irdisch erfolglosesten Menschenleben letztlich kaum ins Gewicht fällt. Auf Erden treten zwischen Siegern und Verlierern die krassesten Unterschiede auf, aber es gibt bei Gott ein Rückspiel, das nach undurchschaubaren Regeln abläuft – was eben bedeutet, daß die Sieger von hier dort die Verlierer sein können und umgekehrt. Das ist ein Gedanke, dessen Erbaulichkeit man gar nicht überschätzen kann. Bei einem Besuch in Sevilla habe ich kürzlich ein Bild des Malers Valdéz de Leal aus dem späten 17. Jahrhundert gesehen, das in der Kirche der Schwesternschaft der Heiligen Barmherzigkeit hängt – auf dem konnte man die Konsequenzen des metaphysischen Egalitarismus, die Gleichdemütigung aller vor Gott und dem Tod, in letzter Härte beobachten. Man erkennt eine Leichenhalle, in der drei Särge stehen, im dunklen Hintergrund ein Schädelberg. Im dem Sarg ganz vorne liegt ein Kardinal in schrecklichster Verwesung, im zweiten Sarg ein hoher Adliger, der erste mit dem Kopf links, der andere mit dem Kopf rechts, etwas weiter, fast schon im Dunkeln, folgtder Sarg eines Bürgerlichen, ohne Insignien. Eine Schriftbanderole im Vordergrund benennt das Bildprogramm: Finis gloriae mundi. Der Maler Murillo soll über das Bild gesagt haben, man müsse sich schon beim bloßen Anschauen die Nase zuhalten. Doch handelt es sich nicht nur um ein Stück
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