Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)
bleibt von vielen unvorhersehbaren, kontingenten Faktoren (symbolisiert in den berühmten apokalyptischen Reitern). Wie bereits gesagt, mit einer Zukunftsvision von vierzehn Jahren konnte man Chefberater des Pharaos werden.
Sloterdijk: Nahrungsmittel für sieben magere Jahre ansparen: ein Unternehmen, von dem man noch Jahrtausende später redet. In diesem Sinn war Josef erfolgreicher als Lenin.
Macho: Und nun sind wir seit beinahe zweihundert Jahren individuell, aber auch kollektiv, in einer merkwürdigen Lage, die sich nur verstehen läßt, wenn wir sie als Ergebnis einer Verwerfung metaphysischer Topologie wahrnehmen. Die Grenzen zwischen oben, unten und der Mitte wurden buchstäblich geschleift, und zwar im Namen der Zeit. Evolutionstheorie treiben heißt, daß wir uns über Erfahrungen von Wald- und Savannenaffen verständigen können, die vor Jahrmillionen gemacht wurden, und daß wir über Sprachentstehung oder Domestikation nachdenken – gerade so, wie wir es in diesem Gespräch tun. Spielerisch bewältigen wir ungeheure Zeiträume, nach hinten, aber auch nach vorne. Die metaphysische Topologie wurde temporalisiert. Seither ist das »unten« der Tiere hinter uns, das »oben« der Engel, Götter und Übermenschen liegt vor uns. Schon die ersten Versuche zur Universalgeschichte haben verdeutlicht, was uns bevorstehen könnte (auch wenn Herder und Hegel noch dachten, die Menschheit sei beinahe am Ziel angelangt). Spätestens im Marxismus wurde dann evident, wie lange es dauern kann, bis die Gattung die prognostizierten Etappen ihrer Entwicklung durchquert hat. Ich vermute, daß wir erst in jenem Augenblick, in dem die metaphysische Topologie temporalisiert wurde, in den Sog von Fragestellungen gekommen sind, die mit Fragen der Erziehung, der Verbesserung, der Zähmung der Menschen assoziiert sind, mit all diesen Fragestellungen, die uns heute so oft quälen.
Sloterdijk: Das heißt, daß die gegenwärtigen Lebenskünste auf der Positivierung der Ungeduld aufbauen. Für grundsätzliche Optimierungsgedanken, mehr noch: für das grundsätzliche Ungeduldigwerden mit der eigenen Lage ist naturgemäß niemand offener, disponibler und rekrutierbarer als der Mensch, der gelernt hat, sich von seinem sozialen Status zu desidentifizieren. Der Mensch, der nicht mehr der status -Mensch im Sinne der alten ständischen Formen ist und nicht mehr in dem Glauben an den Essenzen-Kosmos lebt, wo jede Kreatur an ihrer Stelle steht. Sobald das Vertrauen in die göttlichen Taxonomien geschwächt ist, wird jedes Individuum strukturell usurpatorisch. Zwar beobachtet man immer noch erstaunlich viel Bescheidenheit, Beharrungskraft und konservative Schwerkraft, aber zur allgemeinen Charakteristik der Gegenwart gehört ein gewisses putschistisches Verhalten gegenüber dem Schicksal. Es ist heute sehr leicht, Menschen zu der Überzeugung zu überreden, sie hätten etwas Besseres verdient, als sie faktisch haben. Eine starke Aufwärtsorientierung nimmt überhand, auch und vor allem gegenüber dem Fatum. Das berühmte Diktum von Ulrich Sonnemann: »Aufklärung, ein Unternehmen zur Sabotage des Schicksals« bezieht sich auf viel mehr Felder, als manfrüher für möglich hielt – bis hin zur Manipulation von Geburt und Tod. Was man früher als schlimmste Hybris bezeichnet hätte, ist heute zur Normalhaltung geworden, und das aus Gründen, die man leicht versteht. Tatsächlich, gäbe es noch immer objektive Ränge, dürfte man allen Menschen empfehlen, zu bleiben, wo sie sind – die Hybriden ausgenommen, denen man die Rückkehr in die Mitte nahelegen müßte. Gibt es aber keine – und das ist die Grundüberzeugung der Moderne –, so fällt die Empfehlung anders aus. Jetzt können sich Menschen nur am Besseren orientieren, der Meliorismus ist gewissermaßen die latente Metaphysik des gegenwärtigen Zeitalters. Ein objektives Gutes ist nicht feststellbar, ein relativ Besseres schon eher. Man könnte geradezu sagen, die Menschen sind heute hybrispflichtig, wenn sie sich nicht völlig aufgeben. Sie müssen eine gewisse Aufwärts- und Vorwärtsorientierung behalten, um existentiell in Form zu bleiben. Daraus ergibt sich ein merkwürdiges Schlingern und Gleiten – denn nun wird der evolutionistische Affront, der im 19. Jahrhundert die Arten erfaßt hatte, auch für die Individuen relevant. Man macht sich heute keine angemessene Vorstellung mehr davon, wie erschütternd einmal die Vorstellung war, daß die Arten nicht Gottes Gedanken sind,
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