Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)
sondern daß weder der archetypische Gehalt einer Art noch ihre physische Erscheinung ein für alle Mal feststehen. Die ist die wirkliche Erschütterung des 19. Jahrhunderts: Die Arten gleiten, die Urbilder von Mensch und Vieh, von Pflanze und allem, was wächst und blüht, sind nicht für immer festgelegt, sie driften in der Evolution, wie man heute sagt. Das ist schlimmer als die schlimmste Seekrankheit, weil es sozusagen die ontologischen Formen betrifft. Wenn die Arten gleiten, dann wird man ontologisch seekrank – man muß mit einem Mal mit ansehen, wie aus Fischen Amphibien und aus diesen Landtiere werden, man wird Zeuge dessen, wie ein Mammut in einen Elefanten übergeht, wie aus Wölfen Hunde werden – und was dergleichen Monstrositäten mehr sind.
Macho: Die Evolution als Freak-Show …
Sloterdijk: Und als Formenvariété. Wenn Gott tot ist, dann unter anderem auch, weil er als Garant der Arten zu nichts mehr taugt. Daran kann keine katholische Abwehrfront etwas ändern, auch der Humanismus bringt es in solchen Dingen nur noch zu schwächlichen Defensiven. Man sieht das überaus deutlich in der aktuellen Gen-Debatte, in welcher Katholiken und Humanisten alten Schlages stark überrepräsentiert sind. Die halten es für eine gute Idee, eine Wagenburg um die menschlichen Gene herum zu errichten und auf jeden zu schießen, der an ihnen etwas zu ändern versucht. Das Mißliche an dieser Affäre ist nur: Schon die normalen Fortpflanzungen sind längst als Beiträge zum Artengleiten entlarvt, jeder normale sexuelle Akt unter Menschen treibt dieses Gleiten infinitesimal voran. Man muß sich jetzt endgültig klarmachen, daß das Potential der Gattung per se monströs ist. Eigentlich ist Anthropologie nur noch als Teildiszplin einer allgemeinen Monstrologie möglich.
Macho: Die Arten gleiten wie die Kulturen. Aus den Mammuts werden die Elefanten, aus den Ägyptern die Griechen, aus den Griechen die Römer. Solche »Gleitprozesse« wurden erst spät denkbar, vielleicht erst seit der Universalgeschichte Hegels, die das erste Modell einer Evolutionsgeschichte abgegeben hat. Und wo alles zu gleiten beginnt, gleiten auch die Individuen, immer in der Hoffnung (die sich für mich auch in den usurpatorischen Phantasmen mancher Genetiker artikuliert), wenigstens die Richtung dieses Gleitens angeben zu können.
Sloterdijk: Auch der Begriff der Völker war zunächst in Analogie zu den Arten gedacht. Die Völker waren gleichsam die Tierarten des Geisterreiches, und als solche konnten sie, wie diese, als Ideen Gottes gelten. Mit diesem ontologischen Komfort ist es nach der Entdeckung der evolutionären Drift vorbei.
Macho: Das läßt sich bereits an Herders Ideen gut erkennen. Dort versucht er die Kulturen klimatisch zu lokalisierenund festzuhalten. Afrikaner passen zu Afrika, Chinesen zu China, Lappen zu Lappland. Alle Kulturen sind gleich unmittelbar zu Gott und der Geschichte, sofern sie dort bleiben, wo sie entstanden sind. Aber schon Herder nimmt davon Notiz, daß die Kulturen sich bewegen, daß sie gleiten und driften. Die Römer besiedelten Gallien, die Europäer besiedelten Amerika. Und eben weil die Kulturen gleiten und driften, sich nicht an die Grenzen geschlossener Republiken des Geistes und der Gewohnheiten halten, gleiten und driften auch die Individuen in ihnen. Der Status der einzelnen ist nicht mehr durch Herkunft festgelegt; und die Offenheit ihrer Zukunft motiviert sie zur permanenten Nestflucht. Es ist ja kein Zufall, daß im 19. Jahrhundert – im Sog des Evolutionismus – dieses Gleiten ganz empirisch thematisiert, ja theatralisiert wurde: im Zirkus, wo man vorführte, daß die Pudel rechnen und die Affen, ähnlich wie in Kafkas »Bericht für eine Akademie«, zu Menschen aufsteigen können, in den Freak-Shows und Side-Shows, wo die Elefantenmenschen, Löwenmenschen, Schlangenmenschen – oft unter Überschriften wie »What is It?« oder »Nondescripts« – gezeigt wurden. Und natürlich war das Gleiten auch Thema und Ziel einer Forschung, die unter heutigen Gesichtspunkten extrem anrüchig wirkt, zu Beginn des 20. Jahrhunderts aber für selbstverständlich gehalten wurde. Eugenik galt als die große Fortschrittswissenschaft, keineswegs nur bei Rechten oder »Präfaschisten«. Zuvor wurden bereits in den großen Sozialutopien – Platon, Morus, Bacon, Campanella – eugenische Ideale avant la lettre proklamiert. Und 1910 hat beispielsweise der spätere Kultusminister der Münchner Räterepublik Otto
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