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Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)

Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)

Titel: Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
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dafür, warum tatsächlich anfangs die Zeit als im Raum integriert erscheinen konnte. Savannenaffen leben in einer Welt mit einem weiten Horizont – sehr im Unterschied zu der Welt der Baumgipfel, die eine Blätterhöhlenwelt bildet. Man kann das gar nie genug betonen. Vor dem Menschen kommen die Affen, die einen Horizont haben. Aus dieser Lage entwickelt sich ein kognitives Muster, das bei uns zur Apriori-Ausstattung gehört. Ich denke an ein angeborenes Aufmerksamkeitsschema, das so etwas wie die transzendentale Einheit der Apperzeptionvorwegnimmt. Kantisch gesprochen, es gibt bei Menschen eine Alarmbereitschaft, die alle meine Vorstellungen begleiten können muß. Zunächst darf man feststellen: Der Savannenaffe ist zunächst und zumeist relativ entlastet. Er sieht eventuelle Gefahren von weit her kommen, daher kann er viel mehr entspannen als der Baumaffe, der die Gefahr von nicht so weit her kommen sieht. Er besitzt also dank seiner Weitsichtigkeit eine Sicherheitsreserve, die in seinen gesamten Habitus einfließt. Gelassenheit ist eine biologische Savannenerrungenschaft. Wie manche andere Savannenbewohner ist der sapiens ein alarmbezogenes Dösewesen, er hängt von Natur aus herum und macht meistens gar nichts. Man denkt unwillkürlich an die männlichen Löwen, die immerhin 23 Stunden am Tag pennen. Solche Formen von Faulheit und Entspanntheit sind savannentypisch. Die Sicherheitsreserve durch den weiten Blick macht's möglich. Jetzt aber kommen die Zeit und das Ereignis ins Spiel. Der sapiens ist nämlich nicht nur ein alarmierbares Dösewesen, sondern auch ein appetitgesteuertes Neugierwesen. Stellen wir uns vor, wie die Grundsituation des Lebens in einem weiten Horizont modifiziert wird: Was muß geschehen, daß bei einem verwöhnten Affen der Aufmerksamkeitstonus steigt? Offenbar besteht der Auslösereiz darin, daß am Horizont ein Stressor auftaucht. Ob Aggressor oder Beutetier – die Unterbrechung der Situation muß sich irgendwie zeigen – und tatsächlich zeigt sie sich am Horizont. Dann hebt der Affe den Kopf und ist mit einem Mal mit den Blicken ganz »dort«. Den Kopf heben – das ist, nebenbei gesagt, eine Metapher, die noch Heidegger benutzt, um die Art und Weise zu bezeichnen, wie der Mensch in der Lichtung steht. Das Novum tritt auf in Form einer Unterbrechung der Horizont-Linie. Das Ereignis, mit dem die Zeit gesetzt wird, ist im Raum eingetragen als Störung am Horizont. In meinen Augen liefert das ein weiteres Argument dafür, daß tatsächlich in den frühesten Perioden das Zeitproblem weitgehend neutralisiert werden konnte. Das Tier, das den Beobachtungsvorteil besitzt, sieht die Dinge auf sich zukommen –als ereignishafte Unterbrechungen am Horizont. Ist der Alarm vorüber, kehrt die Ruhe des Horizonts zurück. Um nun die beiden Argumente zusammenzufassen: Wenn man diese beiden Funktionen, das Nestprivileg der neotenisierten Tiere und das Horizont-Privileg der Savannenaffen, zusammenrechnet, dann kommt in Sicht, was ich eben die Abschußrampe für den Verwöhnungsprozeß genannt habe.
    Macho: Die Savannenaffen lernten, mit dem Horizontpunkt, der Horizontstörung, der gefürchteten oder gewünschten Erscheinung am Horizont, flexibel umzugehen. Nicht immer war es nur Gefahr, die angezeigt wurde, sondern häufiger sogar die Nahrung. Nach neuesten Untersuchungen lebten die Vormenschen in der ostafrikanischen Savanne in paradiesischer Eintracht mit den Tieren: weil sie ihren Proteinbedarf ausschließlich an toten Tieren stillten. Sie waren keine »killer-apes«, sondern Aasfresser. Wie konnten sie aber tote Tiere rasch entdecken, bevor sie ungenießbar oder von Raubtieren verzehrt wurden? Nur durch präzise »Himmelszeiger«, nämlich durch die kreisförmigen Sturzflüge von Geiern, die am Horizont erschienen.
    Sloterdijk: Übrigens gibt es ein neurobiologisches Argument, das die genannten Zusammenhänge recht gut illustriert. Man denke an den wohlbekannten Bahnhofseffekt: Wir sitzen im Zug, und der Zug nebenan fährt ab – nun tritt mit großer Regelmäßigkeit der Eindruck auf, daß wir es sind, die fahren. Vielleicht kann man dies als Hinweis auf eine angeborene Erwartung lesen, nach welcher der Horizont feststeht, während Bewegung immer nur Bewegungen innerhalb eines Horizonts sein können. Bewegt sich hingegen der Horizont als ganzer, dann rechnet unser Nervensystem diese Bewegung uns selbst zu. Es ist nach unserer biologischen Grundausstattung unvorstellbar, daß der Horizont sich

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