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Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)

Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)

Titel: Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
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bewegt. Daher tritt die Bahnhof-Täuschung mit so einer eindrucksvollen Hartnäckigkeit auf. Selbst wenn du über den Effekt aufgeklärt bist, ändert das nichts an der Empfindungsweise. Unweigerlich meldet dir deinGehirn: Wir fahren. Es spricht viel dafür, hierin ein Relikt aus der Situation des In-der-Savanne-Seins zu erkennen. Von hier aus ließe sich eine Psychologie des Schwindelgefühls entwickeln: Schwindel – das ist die neurologische Monstrosität, daß der Horizont in Fahrt gerät.
    Macho: Das ist spannend. Ich würde aber gern nochmals bei den Themen der Horizont-Öffnung, der Neotenie und der Verwöhnung ansetzen. Mir scheint, daß die Theorie der Verwöhnung, die Du vorschlägst, eine scharfe Differenz zur Anthropologie markiert, wie sie seit dem 18. Jahrhundert betrieben worden ist. Diese Theorie der Verwöhnung löst nämlich eine fundamentale Ambivalenz auf, die von Herder bis Gehlen oder Plessner behauptet wurde: die Idee, daß die Imperfektion des Menschen – seine Offenheit und Mangelhaftigkeit – als Bedingung seiner Perfektionierbarkeit, das heißt seiner Freiheit oder Freigelassenheit, fungiert. Unter dem Gesichtspunkt der Verwöhnung wird der Mensch nicht als imperfektes Wesen betrachtet, weder in negativer (als »Mängelwesen«) noch in positiver Hinsicht (als »Freigelassener der Schöpfung«). Wer den Menschen aus der Verwöhnung beschreibt, muß die Polarität zwischen Unvollkommenheit und Perfektion nicht mitdenken, die Herder noch quälte, wenn er auf der einen Seite den Menschen als »Mittelwesen« beschrieb, auf der anderen Seite als »Triebwerk« einer imponierenden Universalgeschichte, die von den Sternensystemen bis zu künftigen Geistwesen reichen sollte. Nur wenn die Verwöhnung als primäre Imperfektion – gleichgültig ob als Risiko oder Chance – charakterisiert wird, kann eine Geschichtsphilosophie entwickelt werden, die auf Erziehung und Perfektionierung hinausläuft; erst dann können Erzählungen aufkommen, die das elende Leben des Menschen darstellen und daraus eine Perspektive der Vervollkommnung ableiten: eine religiös-spirituelle, eine militärische, eine pädagogische, eine politische oder neuerdings sogar eine gentechnische Vervollkommnung. Hans-Peter Duerr hat in seinem Buch über Sedna , einer großangelegten Spekulation über die Frühgeschichte, die Frage verfolgt, wie es eigentlich zur Aufgabe des vorgeschichtlichen Paradieses, zum »Sündenfall«, gekommen ist. Warum wollten die prähistorisch verwöhnten Menschen überhaupt in Häuser einziehen? Warum haben sie tatsächlich ihre Lebensbedingungen häufig verschlechtert – und dann als elend, ergo verbesserungswürdig beschrieben? Die Frage ist bis heute nicht ganz gelöst. Eine mögliche Antwort verweist auf die Sprache, auf die Möglichkeit, einen Raum nicht nur zu bewohnen, sondern ihn auch zu benennen und zu metaphorisieren: einen Raum, in dem das eigene Anfangen und Aufhören zu einer elementaren Frage werden konnte, einen Raum, in dem – zwischen den Toten und den Sternen – der Wunsch auftrat, ein »Mittelwesen«, das irgendwo angefangen hatte und irgendwo aufhören würde, zu verändern, zu beeinflussen, zu erziehen, zu gewöhnen, zu verbessern. Wenn ich Dich richtig verstehe, behauptest Du, am Anfang war die Verwöhnung. Wie kam es dann dazu, daß diese Verwöhnung als Ursprung des Elends begriffen wurde? Oder als Wurzel jener Imperfektion, die geradezu eine erzieherische, missionarische Antwort provozierte? Das ist mir noch nicht ganz klar.
    Sloterdijk: Du hast vorhin selbst schon die Antwort angedeutet. Solange sich die Menschen als Mittelwesen beschrieben, bewohnten sie Weltbilder, die es ihnen erlaubten, sich mit ihrem Erbe an Imperfektion abzufinden – jedoch von dem Moment an, in dem die Menschen sich nicht mehr in einer Mitte zwischen oben und unten plazieren konnten, ging es mit ihrer Fähigkeit, sich mit ihren Mängeln abzufinden, schnell bergab. In einem Mittelwesen-Weltbild ist der Mensch sozusagen topologisch saturiert, er sieht sich ontologisch an seinem Platz, denn Dasein heißt in einer Essenzenkosmologie, daß jedes Ding und jedes Lebewesen an keiner anderen Stelle steht als der, die für es vorgesehen ist. Wenn wir wirklich zwischen den Göttern und den Tieren in der Mitte stehen, dann ist jede Lage, die unsereinem zufällt, menschlich zurechenbar. Die Revolte gegen die Mittellage wird als Verfehlung gegen das Maß registriert.Der griechische Hybris-Begriff meint genau das.

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