Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)
dem homo compensator Platz zu machen. Um eine passable Antwort zu geben, müßten wir eine sehr komplexe Geschichte erzählen – ein Kapitel darin würde mit metaphysischer Topologie und mit der Krise des Sich-Einordnens-in-einen-Ordo-Kontext zu tun haben. Ein anderes hingegen handelte von den psychischen und moralischen Nebenfolgen der Modernisierung. Seit dem 19. Jahrhundert peilen wir eine Gesellschaftsordnung an, in der sich die Individuen nicht mehr mit ihrer sozialen Lage identifizieren. Das ständische Empfinden hat sich weitgehend aufgelöst, kein Mensch glaubt mehr, daß seine äußere Stellung in der Welt auch eine Wesensaussage über ihn selbst oder seinen existentiellen Auftrag ausdrückt. Der klassische amor fati ist keine moderne Idee – trotz Nietzsches Versuch, ihn zu reaktivieren. Menschen, die glauben, ihnen geschehe immer genau das, was zu ihnen paßt, sind heute entweder Esoteriker oder Rechtsradikale. Wir haben es also mit individualistischen Lebens- und Subjektivitätsformen zu tun. Dabei muß man vorausschicken, daß der Ausdruck Individualismus sehr unglücklich gewählt ist, weil die sogenannten Individuen in dieser Lebensordnung ihren Namen zu Unrecht tragen. Sie sind gerade keine Unteilbaren, sondern hochgradig teilbare Geschöpfe, also Dividuen, wenn man so will, das heißt, sie leben in der permanenten Unterscheidung von sich selbst. Individuum sein bedeutet heute den Ort besetzen, an dem die ständige Unterscheidung des bisher gelebten Lebens vom künftig zu lebenden Leben stattfindet. Das Individuum ist der Erlebnispunkt zwischen der eigenen Vergangenheit und der eigenen Zukunft. Anders gesagt, zu einem Individuum/Dividuum wird man erst in dem Moment, in welchem man die Transzendenz in sich selber hineinverlegt. Von da an bezieht sich der einzelne auf sich selber als sein eigener innerer großer anderer. Mein bisheriges Leben hat mich als ein individuum revelatum hervorgebracht, als enthülltes, bekanntes, manifestes Selbst – und genau in dieser Eigenschaft kann ich mich auch auf mich selbst als individuum absconditum beziehen. Ich bin schon da und verkörpere zugleich mein eigenes Noch-Nicht. Ich bin meine Zukunft. Für mich bin ich individuum absconditum in dem Maße, wie ich mich auf meine Selbstunkenntnis einlasse. Ich habe mich ständig vor mir, ich temporalisiere mich selbst als Überraschung für mich selbst.
Macho: Gerade moderne Individuen wären demnach nur unter der Voraussetzung möglich, daß sie zum Bruch mit der eigenen Verwöhnungsgeschichte bereit sind: und zwar im Sinne ihrer eigenen Futurisierung. Sie habitualisieren – im Gegensatz zur vorhin diskutierten Positionierung in der Mitte – das Motiv der permanenten Nestflucht. Moderne Individuen formieren sich in der Bewegung nach vorne, in der Durchkreuzung vielgestaltiger Verwöhnungssituationen. Sie forcieren Karrieren, die nur im Einverständnis mit der wiederholten Abreißung von Häusern und »Nestern« vorangetrieben werden können. Darin ähneln sie den Menschen des 18. oder 19. Jahrhunderts, die vor einer großen Reise alles verkauften, was sie besaßen.
Sloterdijk: Also ist Häuslichkeit bei sich selbst für sie die schlechthin verbotene Option.
Macho: Damit sind wir wieder bei dem Motiv, das mich besonders fasziniert. Wo und wann fängt man an, den Menschen aus der Perspektive der Zukunft, seiner potentiellen Verbesserung und Perfektionierung, zu denken? Die Metaphysik war (wie gesagt) in den vergangenen Jahrhunderten – odersogar Jahrtausenden – eine Disziplin der Topologie: oben, unten, Mitte. Wenn Zeit überhaupt eine Rolle spielte, wurde sie auf diese Raumordnung bezogen. Das Verhältnis zur Vergangenheit war geprägt von heiligen Texten, denen man sogar das Datum der Weltschöpfung, des absoluten Beginns, entnehmen zu können glaubte. Die Zukunft blieb dagegen Gottessache, wie noch Augustinus in den Confessiones bemerkte. Wer versucht hätte, sich dieser Zukunft zu bemächtigen, wäre stets Gefahr gelaufen, einer eschatologischen Sonderform der Hybris zu verfallen, von der wir vorhin gesprochen haben. Sub specie mortis ist die Zukunft kein Thema, weder für den einzelnen noch für die Menschheit. Und selbst in der Eschatologie geht es erneut um Raumordnungen: Oben ist der Himmel, unten die Hölle und dazwischen – seit dem 12. Jahrhundert – das Fegefeuer. Darin spiegelt sich das Bewußtsein einer Agrarkultur, die über keinen ausgedehnten Planungshorizont verfügen kann, weil sie abhängig
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