Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)
Neurath – Philosoph des »Wiener Kreises« und Bildstatistiker – mit Begeisterung Sir Francis Galtons Hereditary Genius übersetzt und mit einem euphorischen Vorwort versehen, in dem es heißt: »Wer mit offenem Auge die Entwicklung der Zukunft vorauszuschauen versucht, sieht als die größten Probleme, welche die Menschheit in immer stärkerer Weise bewegen werden, die Verbesserung der sozialen Ordnung und die Verbesserung unsererRasse, zwei Ziele, die eng miteinander zusammenhängen.« Und Max Weber formulierte in seiner Antrittsvorlesung von 1895: »Nicht das Wohlbefinden der Menschen, sondern diejenigen Eigenschaften möchten wir in ihnen emporzüchten, mit welchen wir die Empfindung verbinden, daß sie menschliche Größe und den Adel unserer Natur ausmachen.« 1905 kam ein junger niederländischer Evolutionsbiologe auf die – erst in unseren Augen irrsinnige – Idee, weibliche Primaten mit dem Samen von Afrikanern zu befruchten, um den missing link künstlich zu erzeugen. Ernst Haeckel bestätigte ihm brieflich, er halte die »physiologischen Experimente, insonderheit die Kreuzung niederer Menschenrassen (Neger) und Menschenaffen« durch »künstliche Befruchtung« für »sehr interessant« und halte »das Gelingen dieser Versuche für möglich«. Kurzum, die Drift, das Gleiten, wird universell, und das hat eine praktische Implikation, die vielleicht noch zu wenig ins Zentrum unserer gegenwärtigen Debatten gerückt worden ist. Philosophie und Metaphysik haben – im Sinne der Topologie der Mitte oder auch des Nestes, dieser Verortung der Verwöhnungssituation, von der Du vorhin gesprochen hast – immer vorausgesetzt, daß ihre zentralen Begriffe, der Begriff der Wahrheit, der Begriff des Guten, der Begriff des Schönen, also alles, was bei Platon Ideen heißt und in der Scholastik Transzendentalien, grundsätzlich zeitlos sind, überzeitlich gelten. Die Wahrheit ist der Zeit ebensowenig unterworfen wie das Gute; und wenn etwas nicht gleiten darf, dann diese Leitbegriffe. Es ist für Jahrtausende unvorstellbar, daß die Wahrheit driftet oder das Recht, oder die Idee des Guten. In meiner Sicht ist das 19. und frühe 20. Jahrhundert geprägt von einer Art von Schockwelle, die der Wahrnehmung folgte, daß auch diese Begriffe gleiten. Vielleicht konnte man ja noch gut aushalten, daß die Menschen plötzlich in eine Evolutionsgeschichte eingerückt werden mußten und nicht auf einen göttlichen Schöpfungsakt zurückgeführt werden konnten. Aushalten ließen sich vielleicht auch die immer weiter gefaßten Zukunftshorizonte, Utopien und Dystopien. Aber daßdie Wahrheiten gleiten und nicht überzeitlich gelten, und daß das Gute nicht feststeht, sondern sich womöglich – wie die Utilitaristen behaupten – erst irgendwann herausstellen wird, ist zutiefst erschreckend. Das Wahre, Gute und Schöne wird aposteriorisiert, historisiert, relativiert – das ist eine ungeheuerliche und erschreckende Erkenntnis. Plötzlich muß man – wie Thomas Jefferson am 24. Juni 1813 in einem Brief an John Wayles Eppes – fragen, ob nicht die Gesetze, die heute von uns beschlossen werden, in zwanzig Jahren neu abgestimmt werden müssen, weil dann die Hälfte der Menschen tot sein wird, die jetzt votiert haben. Und woher sollen wir das Recht ableiten, Gesetze für jene Menschen zu erlassen, die noch gar nicht leben? Kann man das Gleiten schärfer fassen als in den Sätzen Jeffersons, die ich kurz wörtlich zitiere: »We may consider each generation as a distinct nation, with a right, by the will of its majority, to bind themselves, but none to bind the succeeding generation, more than the inhabitants of another country«?
Sloterdijk: Woraus sich ergäbe, daß Eltern ihre Kinder wie Angehörige einer fremden Kultur behandeln müßten und daß alle Erziehung Außenpolitik wäre. Damit tauchen wirklich unheimliche Fragen auf. Können Grundwerte Improvisationen sein? Können ewige Werte temporal modifiziert werden? Es gibt übrigens einen berühmten Brief von Jefferson, in dem er sich an die Stimmung zu erinnern versucht, in welcher er die Formulierungen der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung redigierte – hier spricht er ganz und gar die Sprache des Okkasionalisten: Er habe kein anderes Dokument imitieren, sondern genau das ausdrücken wollen, wonach die historisch einmalige occasion verlangte. Das dürfte für all jene befremdlich klingen, die in der Moral nach einem fundamentum inconcussum suchen. Wie aber, wenn es
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