Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)
Zivilisation im ganzen – vorschlagen werden, gewisse Gesundheitsdefinitionen auch auf das Genom auszudehnen. Diese Ärzte werden uns nahelegen, auf einen Teil des Morbiditätspotentials zu verzichten, das zahlreiche Mitglieder der Gattung homo sapiens mit sich führen: Sie werden suggerieren, es geht auch mit etwas weniger Morbiditätsluxus. Und sollte eine sichere Methode zur Verfügung stehen, gewisse eindeutig lokalisierbare Erbleiden auszuschalten, etwa das Down-Syndrom, so spricht vieles dafür, daß man diese Technik eines Tages einsetzen wird. Es gibt kein Menschenrecht auf das Risiko, am Down-Syndrom zu leiden – was immer auch die katholischen und humanistischen Hüter des genetischen Reservats dagegen einwenden. Ich bin auch von der Legitimität solcher exakt definierten Präventionen überzeugt – wie ich umgekehrt nichts übrig habe für die Argumente jener, die heute dafür sorgen wollen, daß auch künftige Generationen dieselben Erbrisiken eingehen wie alle bisherigen Generationen. Dergleichen impliziert eine gewisse Infamie – als wollte man erklären, der Mensch als solcher sei krankheitspflichtig, weil ein gewisses Mißbildungsrisiko eben zur conditio humana gehöre. Ich bin, je mehr ich mich mit den Argumenten der konservativen Szene befasse, mehr und mehr frappiert von ihrem Mangel an Generosität, der sich als Sorge um den Menschen und seine sogenannte Freiheit drapiert. Auch springt die anthropologische Kleingläubigkeit solcher Leute ins Auge – als wüßten sie ganz genau, daß der aktuelle Zustand von homo sapiens den Endbahnhof der Evolution bedeutet. Ich komme von hier aus noch einmal zu unseren Bemerkungen über das evolutionäre Gleiten zurück: Es betrifft offenkundig nicht nur die biologischen Formen, die Artgrenzen und die kulturellen Codes, es bezieht künftig auch mehr und mehr die technischen Lebensformen und die therapeutischen Möglichkeiten ein. Wenn die Grenzezwischen dem Heilbaren und dem Unheilbaren driftet, so ist es den Akteuren dieser Drift aufgegeben, die Grenzen des Machbaren und Zulässigen entsprechend zu verschieben und die ärztliche Berufsethik historisch nachzubessern. Die Sabotage des Schicksals geht weiter. Wer heilen könnte und nicht heilt, macht sich eines Unterlassungsverbrechens schuldig – sollte sich dieses auch unter der Heuchelmaske des Menschenartenschutzes verstecken. Es geht bei alledem um die Bejahung des modernen Therapiegedankens, nicht um genetische Deregulierung, wie manche Alarmisten unterstellen.
Macho: Allerdings erweisen sich die vielbeschworenen neuen gentherapeutischen Prozeduren als sehr schwierig – schwieriger, als man in der Anfangsphase der Forschung dachte.
Sloterdijk: Woraus folgt, daß die Therapiebäume auch hier nicht in den Himmel wachsen. Die Alarmisten beweisen mit ihren überzogenen Argumenten im Grunde nur, daß sie den Eigensinn des genetischen Feldes nicht genug bedacht haben. Das nisi parendo -Argument Bacons hat angesichts dieses Gegenstandes unermeßlich anspruchsvolle Implikationen. Mit dem Gen kann man keine herrischen Späße treiben, dergleichen hat nur in regressiver Science-fiction Platz. Die künftige Gesellschaft wird in noch höherem Maß therapeutokratisch definiert sein als die jetzige – ein Grund mehr, die philosophischen Bedingungen des Heilungsgedankens offenzulegen und die Psychosomatik des »guten Lebens« zu verdeutlichen. Ich meine, wir werden in diesen Hinsichten weiter Melioristen bleiben. Wir werden nicht aufhören, zu verbessern, was zu verbessern ist. Wer da nicht folgt, fällt aus der Aufklärung heraus. Wer heute gegen sogenannte liberale Eugenik polemisiert, muß sich fragen lassen, ob er sich nicht aufgrund einer humanistischen Hysterie sehenden Auges von der Aufklärung verabschiedet.
Macho: Ich denke allerdings auch, daß der Bereich jener wirklich heiklen Grenzfälle deutlich schmaler ist, als in der öffentlichen Diskussion oft angenommen wird. Viel ist ohnehinnicht machbar, anderes will auch gar niemand machen. Im Fall des Klonens ist kürzlich erst klar geworden, daß die Reproduktion genetischer Identität offenbar nicht wirklich funktioniert. Menschen, denen man die Klonierung ihrer verstorbenen Haustiere angeboten hatte, erhielten plötzlich ganz anders aussehende Tiere – statt einer rundlichen Lieblingskatze mit geflecktem Fell eine elegante, einfärbige, an Bilder der Göttin Bastet erinnernde »Kopie«. Manche Eingriffe werden dagegen längst schon praktiziert. Meines
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