Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)
Und rückwärts, seitwärts, vorwärts, nach allen Seiten? Gibt es nochein Oben und ein Unten?« Heidegger blieb ein agrarischer Denker, der die Drift unter die Seinsgeschichte subsumierte (und übrigens auch zum Schicksal eine durchaus positive Beziehung unterhielt). Die Zeit wird ihm tatsächlich bloß zum »Horizont des Seins«, anders als beim späten Ernst Jünger, der einen »Gestaltwandel der Götter« und künftige »Titanenkämpfe« voraussehen zu können glaubte.
Sloterdijk: Ich sehe das genauso. Es ist wohl sehr wichtig zu begreifen, daß Heidegger ein Ontologe der Pflanzlichkeit geblieben ist. Sein Denken bewegt sich im kategorialen Rahmen der Pflanzenwelt, weswegen ihm das Aufgehen so viel bedeuten konnte. Man könnte an diese Feststellung die Frage knüpfen, ob es überhaupt schon eine überzeugende Metaphysik des tierischen Seins gibt. Mein Eindruck ist, daß die Philosophie der Animalität in ihren allerersten Anfängen steht. Dazu paßt der Eindruck, daß die zeitgenössische Debatte so hysterisiert geführt wird – Anfänge lassen der Hysterie viel Platz, sie gehört zum Aufbäumen des Alten und zeigt an, daß gewisse Dinge unhaltbar geworden sind. Das Neue ruft bei den Trägern des Alten Hitzewallungen hervor. Ich selber glaube, daß das biophilosophische Zeitalter erst im Kommen ist. Beim ersten Einblick in das menschliche Genom haben wir den Eindruck bekommen, daß nur ein Teil des genetischen Textes »Sinn ergibt«, um hier die so gängigen wie problematischen texttheoretischen Metaphern zu bemühen. Es läuft in unserem Erbgut offenkundig sehr viel mit, wovon wir nicht wissen, wozu es da ist. Wozu all diese Redundanz, wozu diese leeren Felder, wozu dieses hohe Morbiditätspotential? Diese Fragen sind medizinisch so beunruhigend, wie sie theoretisch interessant sind. Ihre Beantwortung würde uns wohl an den Anfang unseres Gesprächs zurückführen, denn man kann das Thema Verwöhnung auch in einer genetischen Terminologie artikulieren. Tatsächlich scheint das Genom alles andere zu sein als ein sparsamer Text, in dem nur das Allernötigste notiert ist. Im Gegenteil, man hat den Eindruck, da fährt eine ganze bunte Bagagean Erbinformationen in einem riesigen genetischen Omnibus mit und amüsiert sich. Was soll man von diesem Haufen aus Gesindel-Genen halten, die offenbar im Rahmen einer luxurierenden Evolution mitgeschleppt werden? Unsere braven Biologen sind ziemlich ratlos und wissen nicht, was sie mit diesem Junk anfangen sollen. Was hat dergleichen im Erbmaterial der Krone der Schöpfung zu suchen? Wie kommt zum Beispiel das genetische Programm zum Down-Syndrom in unsere Anlagen hinein? Ich weiß, solche Fragen klingen lästerlich – aber die Sache ist ziemlich ernst. Ein wichtiger Aspekt der Verwöhnungsgeschichte zeigt sich eben darin, daß bei uns ein riesiges Morbiditätspotential mitreist. Es gehört zur verwöhnenden Dynamik der conditio humana , daß in ihr die Selektion in sehr hohem Maße ausgeschaltet ist. Zahllose genetische Merkmale, auch solche von morbider oder pathogener Qualität, sind weitgehend selektionsneutral, sie strömen einfach mit dem genetischen Fluß weiter, jenseits von Gut und Böse. Das Schöne, das Unschöne, das Vorteilhafte, das Unvorteilhafte, alles wird tradiert, es läuft mit, es mäandert durch die Generationen – mit der Einschränkung, daß alles in allem eine gewisse Schönheitstendenz in der Sapiens-Gattung zu beobachten ist, wie man etwa am Luxurieren der weiblichen Formen ablesen kann. Über Bioästhetik wissen wir leider noch sehr wenig. Menschen müssen auf jeden Fall zu ihrem Verwöhnungspotential selbst Stellung nehmen – und sie wissen das auch, weil die Gefahr, außer Form zu geraten, von ihnen früh erkannt worden ist. Man könnte hier die Hauptgedanken von Sartre und Plessner kombinieren: Wir sind zur Verwöhnung verdammt; und wir können selbst etwas machen aus dem, was man aus uns gemacht hat, wir können unsere Verwöhnung selbst in die Hand nehmen. Damit wird der Zukunftshorizont erkennbar, denn ich bin sicher, daß das 21. Jahrhundert ein medikokratisches Zeitalter sein wird. Die neue Herrenschicht wird nicht aus Militärs, sondern aus Ärzten und Bioingenieuren bestehen – der Staat hat nur als »therapeutischer Staat« Zukunft, um eine Formel des US -amerikanischen Autors James L. Nolan zu bemühen. In der kommenden Medikokratie wird es ohne Zweifel Ärzte geben, die – sehr im Einklang mit der Grundrichtung der technischen
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