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Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)

Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)

Titel: Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
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solches nicht gäbe? Wenn selbst die hehren Aussagen der Verfassung in gewisser Weise von der »Gelegenheit« – wir würden sagen: vom kulturellen Kontext – diktiert würden? Die am weitesten verbreitete Reaktion auf diese Beunruhigungen besteht in einer Art Flucht in die Sachwerte, man beobachtet allenthalben eine anti-relativistische Reaktion. Was bei den Werten recht ist, ist bei den Genen billig. Viele Besorgte und Verunsicherte möchten die Human-Gene wie ein Sanktuarium ausgrenzen und ein neues templum errichten: An alles dürft ihr rühren, aber hieran nicht. Von allen Früchten des Baums des Wissens und Könnens sollt ihr essen, nur vom Baum des Lebens nicht. Alles sollt ihr verändern und für revidierbar halten, aber die Gene, die laßt ihr mir schön in Ruhe. Der anti-relativistische Affekt ist nicht zimperlich, wenn es darum geht, Relativisten zu denunzieren. Das fängt schon bei der Terminologie an: Sobald man die neuen gentechnischen Optimierungsverfahren mit dem traditionellen Eugenik-Begriff in Zusammenhang bringt, ruft man die unauslöschliche Besudelung herauf, die diesem Ausdruck nach dem NS -Rassismus anhaftet. Eugenik ist also vermutlich ein irrekuperabler Begriff, und die Leute, die heute mit spitzer Zunge von »liberaler Eugenik« sprechen, setzen ganz bewußt auf den abschreckenden Effekt. Das freundliche Adjektiv kann das geschändete Substantiv nicht freikaufen, und so profitiert man von den verbrecherischen Konnotationen des letzteren, um die Sache im ganzen verdächtig zu machen. Auf diese Weise kommt man nie mehr wirklich so zu dem Problem, wie es sich stellt. Es besteht eben darin, daß das allgemeine Gleiten zum einen auch die genetischen Prämissen der conditio humana erfaßt, zum anderen zunehmend von der passiven in die aktive Form übergeht. Doch eben hierdurch, durch das Übergehen vom Leiden zum Tun, hat die Aufklärung bisher immer ihre Schritte vorwärts getan, und wer ihren Fortgang wünscht, muß an dieser empfindlichen Stelle sehr genau hinsehen. Hier kommt das alte Paradigma der Baconschen Wissenschaften ins Spiel: natura non vincitur nisi parendo , der Natur wird man nicht Herr, außer indem man ihr gehorcht. Indem man gehorcht und gehorsam versteht, gewinnt man Spielraum für aktive Modifikationen. Dieses Programm ist, denke ich, weiterhin produktiv, wobei man inzwischen auch zunehmend erkennt, nicht zuletzt durchdie Lektionen der Ökologen, daß man den Ausdruck »gehorchen« nicht auf die leichte Schulter nehmen darf. Die öffentliche Debatte über die vorgebliche Eugenik (vorgeblich, weil die Gentechnik prozedural etwas absolut anderes ist als eugenische Züchtung, bei der das heillose Problem der bloß »benutzten« Zwischengenerationen auftritt) spielt sich nach wie vor größtenteils in einem hysterischen Bereich ab. Immer noch überträgt man eine völlig konventionelle Kritik der »Machtergreifung« auf die Sphäre der Biotechnik. Nur wenige haben verstanden, daß jetzt erst der Ernstfall für das Baconsche nisi parendo näher kommt, denn der Natur des Gens zu gehorchen, das ist eine Kunst, von deren Implikationen man sich nur allmählich einen Begriff macht. Dem Leben gehorchen und seine Pläne verstehen, das ist ein unermeßlich anspruchsvolles Programm. Vielleicht wird man eines Tages resignieren, weil die Einsicht in die kaum auflösbare Eigenkomplexität der Phänomene dem aktivistischen Elan seine Grenzen zeigen wird.
    Macho: Erst wenn die Eugenik-Debatte als »Symptomträger« verstanden wird, stoßen wir auf das eigentliche Problem der Drift: die Temporalisierung einer jahrtausendelang eingeübten und gepredigten topologischen Metaphysik und Ethik. Was geschieht eigentlich in dem Moment, in dem jemand sagt: Was gut und was wahr ist, wird sich vielleicht erst in der Zukunft herausstellen, das bonum et verum steht nicht a priori fest, sondern wird erst viel später sichtbar werden. Das Irritationspotential solcher Behauptungen ist enorm. Daran läßt sich auch ein Stück kritischer Heidegger-Lektüre anschließen. Heidegger hat die Zeit als Grundfrage der Philosophie aufgeworfen, doch zugleich diese Frage so umgebogen, daß er die Topologie – das Sein – retten konnte: im Wahrheitsbegriff der aletheia , in den Begriffen vom Gestell oder von der Lichtung. Er hat versucht, die unheimliche Drift aufzuhalten, die Nietzsche in Abschnitt 125 der Fröhlichen Wissenschaft so eindrucksvoll schilderte: »Wohin bewegen wir uns? Stürzen wir nicht fortwährend?

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