Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)
Wissens kann etwa das Down-Syndrom mit einer normalen Fruchtwasseranalyse (ohne Präimplantationsdiagnostik) festgestellt werden; freilich heißt hier Therapie im Zweifelsfall einfach Tötung, auch jenseits der festgelegten Grenzen für eine Abtreibung. Und schließlich gibt es noch ganz andere Fälle, in deren Beurteilung die Drift, das Gleiten der Begriffe wie der Operationen, intensiver wahrgenommen werden kann. Wie halten wir es beispielsweise mit der »Triage«, der spontanen Selektion von Katastrophenopfern nach der Schwere ihrer Verletzungen? Wie halten wir es mit den Techniken pränataler Optimierung, die – bei Mehrlingsschwangerschaften – auch die selektive Tötung schwächerer oder biologisch scheinbar benachteiligter Föten einschließen? Wie halten wir es mit der Transplantationsmedizin? Die Experimentalisierung des Lebens impliziert offenbar auch Entscheidungen für den Tod, die nur verantwortungsethisch legitimiert werden können. Aber worin besteht eigentlich eine Verantwortungsethik, die nicht mit dem »guten Willen« oder der »richtigen Gesinnung« argumentiert, sondern mit einem künftigen Gut, einem futurisierten bonum ? War es nicht ein großes Glück älterer Kulturen, annehmen zu dürfen, daß das Gute feststeht – nicht nur für die nächsten Generationen, sondern auch für mich selbst in zwanzig Jahren?
Sloterdijk: Da zieht ein neues Dilemma auf. Weil wir diagnostisch und prognostisch soviel wissen, sind wir dazu verdammt, einen ungeheuren verantwortungsethischen Popanz aufzubauen. Jeder Zeitbeobachter wird zugeben, daß wir mitten in dieser Welle leben. Die Reaktion läßt sich schon vorhersehen. Unvermeidlich wird eine neue Welle von jungen Ethikern auftreten, die für die Tugend der Gleichgültigkeit eintreten. Man sieht das kommen – eine neoindifferentistische Schule, die ein Plädoyer für Laissez-faire hält. Sie wird beweisen, daß eine Unverantwortlichkeitsethik nötig ist, nachdem die Verantwortungsethik den Bogen überspannt hat. Damit schließt sich, glaube ich, der Kreis. Die Verwöhnungsdynamik ist bei homo sapiens so gewaltig, daß er auch Luxusformen von Verantwortlichkeit aufbaut. Die Ethikprofessoren von heute wohnen längst nicht mehr im vielzitierten Elfenbeinturm – woher sollte denn bei den heutigen Artenschutzgesetzen das viele Elfenbein herkommen? Sie wohnen eher in einem Treibhaus der moralischen Überreizung. In solchen hypermoralischen Treibhäusern kann man sich nicht lange aufhalten, ohne an Atemnot zu leiden. Wer sich für Wohnkultur interessiert, muß das Haus des Seins vor Überhitzungen bewahren.
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[ 12 ] Dieses Gespräch zwischen Peter Sloterdijk und Thomas Macho erschien unter dem Titel: »Den Kopf heben: Über Räume der Verwöhnung und das Driften in der Zeit« in: Petra Lutz / Thomas Macho / Gisela Staupe (Hg.) Der (im-)perfekte Mensch. Metamorphosen von Normalität und Abweichung . Böhlau Verlag Wien, Köln, Weimar 2003, S. 379-405.
Thomas Macho ist Kulturwissenschaftler und Philosoph. Seit 1993 Professor für Kulturgeschichte an der Humboldt Universität zu Berlin.
Gute Theorie lamentiert nicht
Im Gespräch mit Frank Hartmann und Klaus Taschwer [ 13 ]
Hartmann/Taschwer: Herr Sloterdijk, Sie haben mit Ihrem neuen Buch Schäume gerade Ihr dreibändiges Sphärenprojekt abgeschlossen. Werden diese 2500 Seiten Ihr Hauptwerk sein?
Sloterdijk: Sicher wird die Trilogie in meiner Werkgeschichte ein Schwergewicht bleiben. Aber es ist sehr wahrscheinlich, daß sich die Gewichte noch einmal neu verteilen. Ich funktioniere wie ein Schriftsteller, der sich einen Denker ausdenkt, dem immer wieder andere Gedanken zustoßen. Der Philosoph ist bei mir eine Kunstfigur, die in der Werkstatt des Schriftstellers erfunden wird.
Hartmann/Taschwer: Wird dadurch nicht die Autorität des Philosophen untergraben?
Sloterdijk: Ich fände es eher problematisch, wenn ein Philosoph sich mit dem Autor seiner Schriften verwechselt. Sobald Philosophen versuchen, Autoritäten zu werden, verwandeln sie sich in das, was sie im 20. Jahrhundert nur allzugern gewesen sind, in Weltanschauungsliteraten. Als Ideologen und Führer in der Krise geben sie schädliche Emissionen an die Gesellschaft ab und produzieren trügerische Gewißheiten, mit denen sich die Menschen naiv und oft auch gewalttätig identifiziert haben. Wenn es einen philosophischen Lernprozeß der letzten Jahrhunderthälfte gegeben hat, dann am ehesten wohl den, daß man mit dieser Art von
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