Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)
Weltanschauungsemission nach Möglichkeit Schluß machen sollte.
Hartmann/Taschwer: Sie verwenden für Ihre Theorie besonders weiche Begriffe wie Blasen und Schäume. Machen Sie es Ihren Kritikern damit nicht allzu leicht?
Sloterdijk: Kritiker wollen es gern leicht haben, ein netter Autor respektiert das. Unglücklicherweise gelingt es mir nicht immer, nett zu sein, daher verbinde ich mit der Wahl der Begriffe manchmal einen Charaktertest für den Leser. Wenn beispielsweise von Schäumen die Rede ist, liegt die Wortassoziation »Schaumschlägerei« doch schrecklich nahe. Ich beobachte die Rezensenten, ob sie der Versuchung durch die billigste Ideenmechanik widerstehen können. Gute Leser begreifen, daß es darauf ankommt, die Bilder wie Begriffe arbeiten zu lassen.
Hartmann/Taschwer: Soziologen operierten zuletzt eher mit dem Begriff des Netzwerks, um die zeitgenössischen Gesellschaften zu beschreiben. Können Sie damit nichts anfangen?
Sloterdijk: Sehr viel sogar. Ich zitiere gern Bruno Latour, der den Vorschlag gemacht hat, den Begriff der Gesellschaft abzulösen durch den Begriff der Agentennetzwerke. Dieser Ausdruck steht für eine postsoziologische Reflexionsform, die große Vorteile bietet. Sie erlaubt, die einzelnen Knotenpunkte im Netz in ihrer relativen Autonomie gegenüber dem übrigen Netz viel besser zu respektieren, als wenn man mit einem von oben gesetzten Gesellschaftsbegriff beginnt.
Hartmann/Taschwer: Warum verwenden Sie dann aber doch die Schaum-Metaphorik?
Sloterdijk: Ich möchte damit den anorektischen Charakter der Netzmetaphorik korrigieren. Wenn man von Netzen spricht, bedient man sich einer stark reduktiven Geometrie, also bloß der ein- oder zweidimensionalen Formen von Punkt und Linie. Mit dem Ausdruck »Schaum« bringt man dagegen von vornherein dreidimensionale Gebilde ins Spiel. Während im Netzwerkmodell die einzelnen Punkte kein Volumen besitzen unddaher nicht leben, öffnet das Bild vom Schaum den Ausblick auf eine Theorie der Haushaltsvielfalt. Ein Haushalt ist eine Erfolgsgestalt von Leben. Was ich suche, ist eine Theorie des Menschen als Wohnwesen und eine Theorie der Agglomeration solcher Wesen in ihren diversen Wohn- und Versammlungsformen.
Hartmann/Taschwer: Wie schätzen Sie selbst den Wert Ihres Buches ein?
Sloterdijk: Es taugt etwas auf einer Skala, die es noch nicht gibt. Weil das Buch in seiner Art neu ist, läßt sich über seinen Wert nicht befinden. Es müßte schon kanonisch sein, um etwas wert zu sein, doch wenn es kanonisch wäre, hätte es keine innovative Kraft. Man kann nicht Wert und Neuheit gleichzeitig haben. Das manifestiert sich in der Entwertungsdynamik, die neue Ansätze umgibt. Sobald die Besitzer von älteren Theorieaktien merken, daß ein neuer Wert den Börsengang gewagt hat, stehen sie vor der Frage: Kaufen oder nicht kaufen? Wer bei den älteren Werten bleiben will, schätzt die neuen herunter.
Hartmann/Taschwer: Welches Zielpublikum visieren Sie mit Ihrer Theorie an?
Sloterdijk: Das Sphärenprojekt wendet sich an Angehörige von Berufen, die aus ihrem eigenen Betrieb heraus Grundlagenreflexion entwickeln. Ich denke da vor allem an Architekten, Klimatologen, Soziologen oder Makrohistoriker, Anthropologen, Ärzte, Lehrer und Theologen. Meine Zuneigung gehört aber nicht so sehr den Berufsmenschen, sondern den freien Lesern, die man früher als Dilettanten bezeichnet hätte. Aufs Ganze gesehen wende ich mich an einen Kreis von Personen, die sich mit therapeutischen Fragen im allerweitesten Sinn befassen, denn in der Sache geht es in meinem Buch darum, metaphysische Probleme in immunologische Fragen umzuformulieren. Aus meiner Sicht ist Philosophie heute nur noch als allgemeine Immunologie sinnvoll – diese will wissen, wie in der Endlichkeit Lebenserfolge gesichert werden können. Daher sind die Sphären insgesamt ein Buch für Leute, die mit Hilfe von Denken in Form kommen möchten.
Hartmann/Taschwer: Und wie wird die akademische Philosophie darauf reagieren?
Sloterdijk: Ein Buch, das so heterodox ansetzt, ist vermutlich außerhalb der Reichweite von formierten philosophischen Standpunkten.
Hartmann/Taschwer: Wären Sie damit einverstanden, Ihre Sphärologie in die Nähe von Tausend Plateaus von Deleuze und Guattari bzw. Empire von Hardt und Negri zu stellen?
Sloterdijk: Diese Bücher ergäben einen schönen Abschnitt im Regal. Tatsächlich gehört mein Buch am ehesten in dieses Verwandtschaftssystem. Auf seine Weise ist es ja auch eine
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