Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)
Theorie der geldverflüssigten Welt, darin steht es Kapitalismus und Schizophrenie von Deleuze und Guattari nahe. Im übrigen wird es zum Entsetzen meines Lektors, der mich angefleht hat, keinen vierten Band zu machen, einen aktuellen Anhang zu Sphären III geben, ein kleines Beiboot von 400 Seiten mit dem Titel Im Weltinnenraum des Kapitals . Darin mache ich einen Gegenvorschlag zu Negri und Hardt.
Hartmann/Taschwer: Wie sieht der aus?
Sloterdijk: Empire ist ein interessantes und radikales Buch, aber es baut auf einem irreführenden Begriff auf, weil die Rede von Empire genau den Unterschied verwischt, von dem die Autoren reden wollten. Wo die aktuelle Welt als Empire im Singular behandelt wird, verpaßt man die Pointe, daß die aktuelle Kapital- und Komfortwelt eine hochgradig exklusive Struktur ist. Ich nehme dagegen von Dostojewskij das Bild des Kristallpalasts auf, mit dem er schon in den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts die westliche Konsumwelt auf den Begriff gebracht hat. Man muß heute die Aufzeichnungen aus dem Kellerloch wiederlesen – das ist die Magna Charta der Globalisierungsgegnerschaft und des antimodernen Ressentiments. Man kommt von Dostojewskij sowohl zu Attac als auch zu den Islamisten. Der große Vorteil der Kristallpalastmetapher besteht darin, daß man schon am Namen das Entscheidende abliest: Hier hat man es mit einem Gebäude zu tun, das eine enorme Innen-Außen-Differenz aufrichtet. Bei dem Ausdruck Empire geht dieser Akzent verloren, weil er suggeriert, alles sei bereits vom System erfaßt. Das ist völlig falsch, die effektive Kapitalzone ist ein großer, aber streng exklusiver Raum – ich spreche frei nach Rilke vom Weltinnenraum des Kapitals. Wenn man genau hinsieht, erkennt man, daß Negri einen gnostischen Begriff von Systemgegnerschaft benutzt – er pflegt eine Mystik des Dagegenseins, die das Ganze als Gegner braucht –, so wie einst der Christ die Welt als Folie für Weltflucht brauchte. Ich lese das Buch als eine Totenmesse für den Linksradikalismus.
Hartmann/Taschwer: Sie selbst verwenden in Ihrem Buch Begriffe wie »Wohlstandsblase« oder »Verwöhnungsgruppen«. Ist das angesichts steigender Arbeitslosigkeit und gekürzter Sozialleistungen angebracht?
Sloterdijk: Gute Theorie erkennt man daran, daß sie nicht lamentiert. Die Krise der Gegenwart erlaubt, unsere Wohlstandsblase etwas mehr von außen zu sehen. Seit sich die Exklusionsdynamik intern verschärft, werden auch die Inklusionen für die Theorie auffälliger. Die Verwöhnungstheorie von Sphären III ist exakt datiert, sie reagiert auf die Krise des Therapie- und Bemutterungsstaats. In der aktuellen Wohlstandsdämmerung werden die Differenzen zwischen den Verwöhnungsklassen in der Population spürbar. Ich liefere also eine Krisentheorie – aber diese arbeitet nicht, wie der klassische Marxismus, eine Verelendungstendenz heraus. Sie nutzt eine Verwöhnungspause, um eine allgemeine Theorie des Humanluxus und der konstitutiven Verwöhnung zu entwickeln.
Hartmann/Taschwer: Wie weit wird es mit der Wohlstandsdämmerung noch kommen?
Sloterdijk: Ich glaube nicht, daß es bei uns zu einem Rückbau des Sozialstaats nach US -amerikanischem Muster kommen wird. Dazu sind die Stellungen der Sozialdemokratie in Europa zu fest ausgebaut, zumindest auf dem Kontinent. Mit Sozialdemokratie meine ich allerdings weniger die gleichnamige Partei als die Struktur der Wohlfahrtspolitik überhaupt.
Hartmann/Taschwer: Wie ist das zu verstehen?
Sloterdijk: Ich bin davon überzeugt, daß es keine nicht-sozialdemokratischen Parteien in kontinentaleuropäischen Parlamenten geben kann. Die CSU in ihrer bayerischen Ausprägung beispielsweise ist viel sozialdemokratischer als die Schröder- SPD auf Bundesebene. Sozialdemokratie bezeichnet die Einsicht in die Dynamik der massenkaufkraftgetriebenen Wirtschaft – und diese liegt jeder Art von moderner Parteiendemokratie zugrunde. Seit dem Boom der 80er Jahre wissen die meisten auch, daß es ohne eine gewisse Massenfrivolität kein Wirtschaftswachstum geben kann. Daher haben sich die neueren Politiker allesamt auf die systemgemäße Kombination von Sekurität und Leichtsinn eingependelt. Massenverarmung wäre schlechterdings nicht vermittelbar, vor allem nicht unter dem Gesichtspunkt der Kapitalinteressen, die man in systemkritischen Milieus noch immer absurderweise häufig mit konservativen Interessen identifiziert. Wie aber Karl Marx gezeigt hat, ist das Kapital die revolutionärste und
Weitere Kostenlose Bücher