Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)
anarchischste Agentur der modernen Gesellschaft. Das aktuelle Problem besteht eher darin, daß sich die Öffentlichkeit daran gewöhnt, ein unteres Segment aus der Gesamtversorgungsleistung des Staats auszunehmen …
Hartmann/Taschwer: … im Sinne einer Zweidrittelgesellschaft?
Sloterdijk: Zunächst eher einer Neunzehntelgesellschaft oder, wenn es schlimm kommt, einer Vierfünftelgesellschaft. Ich zitiere in diesem Zusammenhang subversive Literatur wie den Armutsbericht der Bundesrepublik Deutschland, aus dem ziemlich erstaunliche Daten hervorgehen: Betrachtet man Armut als dynamisches Phänomen, so zeigen sich nur 1,7 Prozent der Population im Gesamtuntersuchungszeitraum als dauernd arm.
Hartmann/Taschwer: Was soll man mit diesem unteren Segment tun?
Sloterdijk: Die traditionelle Linke hätte behauptet, daß unsere direkte Solidaritätsmoral ausreichen müßte, diejenigenmitzutragen, die vom systemischen Tropf abgehängt werden. Heute hat auch links niemand den Nerv zu sagen, daß man auf Formen direkter Solidarität zurückgreifen müsse. Und eben dies ist falsch, weil ohne eine Regeneration der direkten Solidaritäten die soziale Kohärenz im ganzen illusorisch wird. In diesem Sinn ist das Sphärenprojekt auch ein Versuch, die totale Sklerose der linken Diskurse zu therapieren.
Hartmann/Taschwer: Ist Ihre Sphärologie also ein linkes Projekt?
Sloterdijk: In großen Teilen gewiß. Es wäre kurzschlüssig, meine Grenzüberschreitungen zwischen verschiedenen Disziplinen und Traditionen als Indikator für rechte Sympathien zu lesen. Das Sphärenprojekt untersucht, woher die Quellen der wirklichen Solidarisierung fließen. Ich möchte mit Hilfe der Atmosphärenanalyse eine Sprache der Teilhabe formulieren, die von der Linken zu Unrecht den Traditionalisten oder den Rechten überlassen worden sind. Man wird auch auf der linken Seite die Ethik der Großzügigkeit lernen müssen. Das Miteinander-Zusammenhängen-Können von Menschen, die nicht direkt Nachbarn sind, ist jedenfalls völlig neu zu beschreiben. Mit den ausgelaugten Vokabeln des Klassenkampfes, die seit langem nicht mehr stimmen, läßt sich das unmöglich erreichen.
Hartmann/Taschwer: Das Zusammenhängen mit Fremden ist eine Frage, die sich auch im neuen Europa der 25 stellt. Vor zehn Jahren haben Sie ein Buch mit dem Titel Falls Europa erwacht veröffentlicht, aus dem erst kürzlich der österreichische Bundeskanzler zitierte. Ist Europa in der Zwischenzeit munter geworden?
Sloterdijk: Ich weiß gar nicht, ob soziale Systeme schlafen können und ob Nationen aufwachfähige Kollektive sind. Aber es ist eine Tatsache, daß die Europäer nach dem Debakel von 1945 einer Lethargokratie zum Opfer gefallen sind. Durch all den hektischen Betrieb hindurch war fast überall die Lähmung an der Macht. Notwendig wäre jetzt, daß die Europäer von ihren Leistungen positivere Begriffe entwickeln. Sie sollten künftig von ihrem postheroischen und postimperialen Lebens- und Politikstil selbstbewußter reden. Es gibt Indizien dafür, daß eine neue europäische Selbstaffirmation einsetzt, die solchen Tendenzen Ausdruck gibt – in diesem Sinn kann man vielleicht von Erwachen sprechen.
Hartmann/Taschwer: Hat dieses mögliche Erwachen auch mit den aktuellen Albträumen der USA im Irak zu tun?
Sloterdijk: Gewiß. Die Bush-Ära hat jetzt schon eine irreversible historische Konsequenz. Unter ihr ist das Atlantische Bündnis der Ära des Kalten Kriegs zerfallen. Der Atlantik wird wieder als Grenzgewässer wahrgenommen und nicht mehr als das neue Mittelmeer. Europa hat zum ersten Mal seit langem wieder eine Westgrenze.
Hartmann/Taschwer: Und wie steht es – Stichwort EU -Erweiterung – mit der Grenze nach dem Osten hin?
Sloterdijk: Ich denke allen Ernstes, daß mit der EU -Erweiterung am 2. Mai die Nachkriegszeit zu Ende gegangen ist. Der August 1914 und der Mai 2004 sind Eckdaten einer zusammenhängenden Geschichte. Europa füllt jetzt seine historisch gewachsenen Grenzen wieder aus. Es hat sein territoriales Optimum erreicht – weitere Ausdehnung wäre vermutlich fatal. Was vor uns liegt, sind Jahrzehnte konsequenter Transferleistungen zugunsten der neuen EU -Staaten. Das wird Spannungen bringen, natürlich, aber solche von sehr sinnvoller Art. Daß derartige Injektionen funktionieren können, hat man angesichts des spanischen oder irischen Wirtschaftswunders gesehen. Ob dasselbe mit 40 Millionen Polen und ihrer sehr zurückgebliebenen Volkswirtschaft auch gelingen
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