Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)
wird, weiß niemand.
Hartmann/Taschwer: Wie sieht es mit einem EU -Beitritt der Türkei aus?
Sloterdijk: Angesichts der eigensinnigen Aufholdynamik der neuen EU -Staaten beantwortet sich diese Frage von selbst. Im Brüssel der 25 wird man nie die nötige Einstimmigkeit in dieser Angelegenheit erzielen: Warum sollten die Polen, die Ungarn, die Tschechen, die Litauer eine hungrige und labile Türkei in die EU aufnehmen wollen, solange sie selbst jeden umverteilbaren Euro nötig haben? Aber selbst wenn die Türkei beitreten dürfte – was so gut wie ausgeschlossen ist –, würde sie als Mitglied zweiter Klasse dastehen, weil sie auf sehr lange Zeit nicht in den Genuß der Brüsseler Förderungen kommen könnte.
Hartmann/Taschwer: Was passiert, wenn der Integrationsprozeß scheitert?
Sloterdijk: Dann bekommen wir in ganz Europa lautstarke Benachteiligtenbewegungen nach Kärntner Modell: aggressive Regionalismen mit anti-europäischer Stoßrichtung. Wir haben an der ehemaligen DDR gesehen, wie sich sehr bald nach der Vereinigung eine ziemlich unappetitliche neonationalistische Szene artikulierte. Es ist zu erwarten, daß ähnliches auch in den neuen Beitrittsländern passieren wird, sobald dort die Sortierung in Sieger und Verlierer vollzogen ist. Wahrscheinlich wird man in fünf Jahren europaweit permanent über diese wütenden Provinzler reden und sich nach den Tagen zurücksehnen, als man einen schneidigen Volksschauspieler wie Jörg Haider unheimlich fand.
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[ 13 ] Dieses Gespräch zwischen Peter Sloterdijk, Frank Hartmann und Klaus Taschwer erschien unter dem Titel »Gute Theorie lamentiert nicht« in: Telepolis (8. Juni 2004, (Abfragedatum 9.1.2013).
Frank Hartmann ist seit 2009 Professor an der Bauhaus-Universität Weimar. Klaus Taschwer lebt als freiberuflicher Sozialwissenschaftler und Wissenschaftsjournalist in Wien.
Es gibt keine Individuen
Im Gespräch mit Sven Gächter [ 14 ]
Gächter: Herr Sloterdijk, ein, zugegeben, etwas frivoles Gedankenexperiment: Anke Engelke lädt Sie in ihre Late-Night-Show ein und bittet Sie um eine dem kommunen couch potato zumutbare Synopsis Ihres neuen Buches Sphären III . Wie würden Sie sich aus der Affäre ziehen?
Sloterdijk: Frivol erscheint mir dabei eigentlich nur die Annahme, Frau Engelke könnte noch auf ihrem Platz sein, bis sie auf die Idee verfiele.
Gächter: Gut. Dann nehmen wir an, Harald Schmidt würde seinen Late-Night-Dienst noch verrichten. In der späten, betont bildungsbürgerlichen Ausprägung seiner Show wäre der Talk-Gast Peter Sloterdijk doch sehr gut aufgehoben gewesen.
Sloterdijk: Ich schätze Harald Schmidt seit seiner Zeit als junger Kabarettist in Düsseldorf, als er seine Programme gern mit Zitaten aus meinem Buch Kritik der zynischen Vernunft spickte.
Gächter: Eigentlich wäre Schmidt der ideale Hauptdarsteller, sollte die Kritik der zynischen Vernunft jemals verfilmt werden.
Sloterdijk: Es gibt in der deutschen Szene nicht viele, die mit dem intellektuellen Plasma, das ich in Kritik der zynischen Vernunft beschrieben habe, sinnvoll umgehen können. Mir fallen höchstens zwei, drei Namen ein: allen voran Bazon Brock, der als Entertainer und Philosoph, sozusagen als Diplom-Eulenspiegel des späten 20. Jahrhunderts, ein echtes Œuvre vorweisen kann. Unter den Jüngeren würde ich Christoph Schlingensief nennen und eben Harald Schmidt. Damit können wir die Liste schließen, denn ab hier wird es eher dumpf. Es gibt zwar reichlich Humorindustrie, aber sie hat nicht die Qualität von Schärfe.
Gächter: Die Sphären -Synopsis für Eilige oder Einsteiger sind Sie uns trotzdem noch schuldig.
Sloterdijk: Die Schaumtheorie, die ich in Sphären III entwickle, ist nützlich für all jene, die mit ihrem Nachbarn nichts zu tun haben wollen und trotzdem eine gute Erklärung dafür brauchen, warum sie ihn nicht loswerden. Anders formuliert: Ich versuche, eine Antwort zu geben auf die Frage nach den Rätseln der Gleichzeitigkeit von so verschiedenen Lebensphänomenen, die auf engem Raum zusammengeballt sind, ohne sehr viel miteinander zu tun zu haben. Schaum ist eine Metapher, die hilft, diese großen Akkumulationen von menschlichen Lebensformen zu beschreiben – unter Vermeidung des Begriffs »Gesellschaft«.
Gächter: Ein Begriff, der ja auch eher in der Soziologie als in der Philosophie beheimatet ist. Trotzdem: Was stört Sie daran? Die deskriptive Unschärfe? Oder ist »Gesellschaft«
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