Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)
für Ihren Ansatz zu makrotheoretisch?
Sloterdijk: Ich würde dem Begriff »Gesellschaft« jenen des Haushalts vorziehen. Ein Haushalt ist eine monadische Größe, die das Potential besitzt, eine Welterzeugung an einer einzelnen Stelle hervorzubringen. Und zu einer Welt gehören naturgemäß mehrere Mitspieler – so wie Robinson seinen Freitag hatte, so hat der moderne Single seine Medien, mit denen er Realkommunikation simulieren kann. Der Single von heute ist die Erfolgsausgabe der multiplen Persönlichkeit, die leider meist mit stark psychiatrisierendem Vokabular beschrieben wird. Das erscheint mir nicht gerechtfertigt, denn viele multiple Persönlichkeiten entwickeln gerade aufgrund ihrer elastischen Beschaffenheit besondere Stärken, unter anderem die,sich mit sich selbst nicht allzusehr zu langweilen. Nach meiner Definition gibt es ohnehin keine Individuen, es gibt lediglich Dividuen, das heißt Teile von Paaren beziehungsweise von Haushalten, wobei ein Alleinlebender in der Regel ein Subjekt ist, das durch geeignetes Training gelernt hat, mit sich selbst ein Paar – oder einen Haushalt – zu bilden.
Gächter: Ein Zitat aus Sphären III : »Die alteuropäische Denk- und Lebensform Philosophie ist unleugbar erschöpft.« In welchem Zusammenhang steht dieser Satz mit Ihrem Diktum vom Tod der Kritischen Theorie?
Sloterdijk: In keinem unmittelbaren. Die Kritische Theorie ist aus anderen Gründen tot, als die Lebensform Philosophie erschöpft ist. Die Kritische Theorie ist tot, weil sie ihre Aufgabe, als Ziviltheologie der Bundesrepublik zu fungieren, nicht mehr überzeugend wahrnehmen kann. Selbst wenn es zutrifft, daß moderne Gesellschaften so etwas wie ein ziviltheologisch verwendbares Rahmenwerk brauchen, kann die Kritische Theorie allein ein solches nicht mehr bieten. Versucht sie es trotzdem, wird sie als Sekte auffällig, und genau das ist seit längerem zu beobachten.
Gächter: Rührt die zum Teil offene Ablehnung, die Ihnen von Protagonisten der Kritischen Theorie, etwa Jürgen Habermas, entgegenschlägt, von Ihrer Weigerung her, dieser »Sekte« beizutreten?
Sloterdijk: Bei Angehörigen einer Sekte darf man eines immer voraussetzen, nämlich ein hoch ausgebildetes Sensorium für Kompatibilität. Ich habe mir immer anmerken lassen, daß ich lieber einer amüsanteren Sekte angehören möchte, wenn wir denn tatsächlich sektenpflichtige Geschöpfe sein sollten.
Gächter: Könnte man Ihr Sphären -Projekt als eine universalistische Theorie des Denkens beschreiben, die räumlich modelliert wird?
Sloterdijk: Ja, wobei ich »Räume« nicht im Sinne der Physik, sondern im Sinne einer Resonanzgemeinschaft definiere. Zwischen Menschen bestehen Intervalle, die kommunikativ, in gewisser Weise auch moralisch gefüllt beziehungsweise überbrückt werden. Den moralischen Intervallen zwischen Menschen gilt meine Sphärentheorie, wobei ich von der Grundannahme ausgehe, daß alle Lebewesen zunächst nur in der Geschlossenheit ihres Immunsystems existieren können. In Zukunft wird man wohl sehr viel stärker von der Begrifflichkeit einer allgemeinen Immunologie Gebrauch machen müssen, um sich darüber zu verständigen, was Menschen überhaupt miteinander gemeinsam haben können. Den Begriff »Gesellschaft« lehne ich ab, weil er allzu penetrant unterstellt, daß Menschen in allen Situationen und zu allen Zeiten in derselben Weise gemeinsame Immunsysteme ausbilden. Die »Gesellschaft« wird so als immunitärer Block konstituiert und falsch vereinheitlicht. Die älteren Sozialimmunologien waren allesamt primär über eine Logik der Zugehörigkeit gesteuert. Heute jedoch werden die Umrisse einer neuen, ganz anders gearteten Sozialimmunologie sichtbar, die eindeutig zur Individualimmunologie, also zur Weltbildung und Selbstsicherung auf lokaler Ebene, tendieren. Ich denke, die Netzwerktheorie und die Schaumtheorie sind realistischer als die altbackene »Soziologie«. Heute noch von »Gesellschaft« zu sprechen, ist eine Form von begrifflicher Hochstapelei.
Gächter: Ist Ihre Sphärentheorie letztlich nicht der Versuch, den existenzialphilosophischen Schock abzufedern, indem Sie ihn sozusagen in Schaum betten?
Sloterdijk: Die Existenzialphilosophen haben die Unbehaustheit gewaltig übertrieben. In Wahrheit sitzen die Menschen in ihren Wohnungen und Einbildungen und federn sich ab, so gut sie können. Leben heißt die Immunsysteme fortlaufend modernisieren – und ebendas kann durch die Schaumtheorie schärfer als
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