Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)
ausgegossen. Stiftungsgeld hingegen hätte die Kraft, diese Summen in intelligentes Geld verwandeln zu können, denn sie würden wie präzise Allokationen an einer spezifischen Stelle eingezahlt. Aus dumpfen Beihilfen würden dann kluge Investitionen. Intelligente Geldverwendung – das ist der kategorische Imperativ der Umverteilung, und gegen den wird im gegebenen System chronisch verstoßen. Man muß eine Stimmung der öffentlichen Großzügigkeit erarbeiten, damit nicht ausgerechnet die Wohlhabenden in die Lage kommen, sagen zu müssen: »Wir haben schon gegeben! Wir geben nichts!« Alle sollen sagen können: »Wir haben schon gegeben, doch wir können noch mehr.« Das wäre das A und O einer Umverteilung, die von Pflicht und Zwang auf Freiwilligkeit und Großzügigkeit umstellt ist. Natürlich ist dergleichen nur möglich, wenn eine gewisse Euphorie des Reichtums da ist, und diese kann sich im Klima allgemeiner Mangelfiktionen unmöglich entwickeln. Hiervon handelt das dritte Kapitel von Sphären III , wo ich von Auftrieb und Verwöhnung spreche. Einige muffige Rezensenten haben das als konservative Absage an den klassischen Sozialstaat gelesen. In Wahrheit ist es eine Reflexion darüber, wie man den Sozialstaat überbieten kann durch das großzügige Gemeinwesen.
PANTEL: Es gilt, das Zerbrechliche besonders zu schützen, sagen Sie. Was wäre in dem Zusammenhang, über den wir gesprochen haben, das Schützenswerte?
Sloterdijk: Das setzt an zwei Polen an: Das erste Zerbrechlichste ist die Dyade, also der zwischenmenschliche Beziehungsraum, paradigmatisch verkörpert im Mutter-Kind-Feld. Der ist in unserer Gesellschaft im allgemeinen ziemlich gut geschützt. Er ist in unserem Rechtssystem außerordentlich gut eingebettet, und man könnte die letzte Vaterfunktion des Staates darin sehen, daß er die Maternisierung ohne Grenzen garantiert. Man darf nicht vergessen: Der Vater ist, evolutionär gesehen, derjenige, der das Mutter-Kind-Feld schützt. Dieser uralte Pakt zwischen der Männerwelt und der Frauenwelt muß auch in der modernen Welt in geeigneten Formen wiederholt werden. Das Zerbrechlichste in allen bekannten Gesellschaften ist das Mutter-Kind-Feld. Es bildet das utopische Zentrum des Kollektivs und zugleich auch das Wärmezentrum, das anthropogene Strahlungsfeld schlechthin: Wenn das angetastet wird, mißlingen die Menschenleben, es entstehen Verrückte und Verwahrloste in großen Zahlen, die »Gesellschaft« zerfällt von innen. Das zweite Zerbrechlichste ist natürlich das große Ganze selber, das wie ein Schaum gebaut ist. Das ist es, was ich in Sphären III zu zeigen versuche. Will man das System des gemeinsamen Lebens adäquat beschreiben, darf man nicht länger von »stahlharten Gehäusen« reden, wie Max Weber das noch getan hat, sondern von fragilen Gebilden. Die Härtebilder haben ausgedient, man muß jetzt endlich die Metapher wechseln. Mittelalterliche Städte haben sich eine Außenmauer zugelegt, die zu Beginn der Neuzeit ihrer Dysfunktionalität wegen entfernt wurden. Das große Komforttreibhaus, in dem wir Menschen des Westens heute leben, hat keine Stadtmauern mehr. Es ist unbegreiflich offen, mit weichen Grenzen, weswegen es ständig auf Verletzungen gefaßt sein muß, ohne seine unentbehrliche Heiterkeit, die sein Betriebsklima ist, zu verlieren. Allerdings kommt jetzt ein Faktor ins Spiel, den man bisher zuwenig beachtet hat. Die hohe Verletzbarkeit des modernen Schaums geht mit einer unglaublichen Elastizität einher, die bewirkt, daß Zerstörungen, Verluste, eingestürzte Häuser, zusammengefallene Korridore binnen kürzester Zeit ersetzt werden. Die eigentliche Lektion des 11. September besteht darin, daß wir kurz nach dem Debakel die Information bekamen: An derselben Stelle wird bald wieder was stehen! Das ist die entscheidende Information, die vom 11. September ausgeht. Die hysterisch-militärische Reaktion, die unter dem stupiden Titel War on terror lief, war politisch opportunistisch und systemisch irreführend. Die wirkliche Information liegt im Prozeß im Ganzen: Wenn ein solches Gebäude in sich zusammenfällt, dann bauen wir umgehend ein besseres. Wenn es nach Daniel Libeskind geht, wird das neue auch höher sein als das vorherige. Also: Man darf die Elastizität des Systems nicht unterschätzen! Zerbrechlichkeit und die Unmöglichkeit des perfekten Schutzes sind zwar ein durchgehendes Merkmal moderner Komfortschäume. Aber weil die »Gesellschaft« eben nicht monolithisch
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