Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)
entdeckten »Ideen« eng verwandt sind mit dem griechischen Wort für die konkreten Anblicke, das heißt die Umrisse von specieshaft definierten Wesenheiten, alias eidoi. Darum sprechen wir ja von »Ideen« oder eidetischen Konstanten. Das Wort Eidos meint eine stabilisierte Anblickserwartung hinsichtlich einer Sache. Das eidetische Ur- und Umrißbild entspricht der Ausstechform, mit der man die wiedererkennbaren Gestalten aus dem Realen heraussticht. Platon ist somit in der Geschichte der Sichtbarkeiten insgesamt alsder Urvater des Prinzips Bild zu identifizieren. Hinter Platons Entdeckung steckt im übrigen eine Erfahrung, die die Griechen anderen Völkern ihrer Zeit voraushatten – die Erfahrung der alphabetischen Schrift, das heißt eines graphischen Bildes, das einen Hinweis auf eine phonetische Realität vermittelt. Wer Schriften lesen kann, trainiert das Vermögen, aus der Fülle des Unähnlichen Ähnlichkeiten herauszulesen. Schreiben wir den Namen einer Sache hin, so sieht der Name der bezeichneten Sache natürlich in keiner Weise ähnlich. Der Name der Sache ruft aber die Idee der Sache herauf, die der Sache ähnlich sieht. So erweist sich Schrift als ein Tool, um via Lautdarstellungen Ideen zu visualisieren. In diesem Sinn hat die Praxis des Schreibens die Philosophie erst eigentlich ermöglicht. Durch sie kommt die folgenreichste Innovation der europäischen Geistesgeschichte auf den Weg: Die griechische Kursivschrift, die die Vokale mit anschreibt, erlaubt erstmals ein nahezu kontextfreies Verstehen von Texten. So entsteht der Leser, der mit einem Buch allein zurechtkommt – eine revolutionäre Figur. Ihm folgen der Forscher, der Historiker, der Autodidakt. Durch Lesekultur entwickelt sich ein mentales Bildermachen, das sich im Laufe der Jahrhunderte mit dem visuellen und realen Bildermachen verbindet – vor allem in den künstlerischen Berufen. In diesem Sinn gehören Denker, Schreiber und Zeichner zusammen.
Roth: In Ihrer Sphärentrilogie rekurrieren Sie auf ein Bild, das bereits in der Antike geprägt wurde: das der Sphäre. In allen drei Teilen des Werkes Blasen , Globen und Schäume beschreiben Sie den Menschen als atmosphärisch sensibles zoon politikon , dessen In-der-Welt-Sein steht und fällt mit der Bemühung, in etwas Abgerundetem zu wohnen. Für ein philosophisches Projekt ist Ihr dreiteiliges Werk bemerkenswert reich bebildert. Die Abbildungen, die Sie verwenden, sind zum Teil mimetischer oder illustrativer Natur. Die Mehrheit der Bilder sind jedoch nicht direkt im Text verankert. Was für eine Funktion haben Bilder in Ihrer Trilogie?
Sloterdijk: Die Bilder werden in diesem Buch in der Regel nicht als Illustrationen eingesetzt, sondern als autonome visuelle Präsenzen. Es gibt naturgemäß auch Fälle, in denen sie nur als Belege oder Beispiele fungieren, vor allem im zweiten Band. Wenn ich dort von Globen und Makrosphären spreche, liegt es nahe, solche Objekte zu zeigen. Dann ist die Resonanz zwischen Bild und Text sehr eng und figurativ, die Spannung zwischen den beiden Ebenen tendiert in solchen Fällen gegen Null. Üblicherweise jedoch sind die Bilder, die ich ausgewählt habe, nicht einfache optische Zusätze zum geschriebenen Text. Wo sie so wirken, wie ich sie intendiere, sind sie überwiegend evokativer Natur. Was diese Bilder hervorrufen, sind nicht Verdoppelungen des Textinhaltes, sondern eigensinnige Erweiterungen desselben ins Imaginäre. Die Bilderserien in meinen Büchern drücken den Sachverhalt aus, daß der gesamte Text bei mir nicht mehr auf der traditionellen weißen Seite des alteuropäischen Buches geschrieben steht – selbst wenn es nach wie vor so aussieht, als sei das Sphärenbuch ein Buch wie alle Bücher bisher. Das wäre ein Trugschluß. Es könnte scheinen, als würde ich mich wie ein herkömmlicher Autor mit der Monologik des Philosophiediskurses begnügen. Solche Monologe stehen schwarz auf weiß. Das Weiß der Buchseite in den Sphären zitiert jedoch schon das Grau des Monitors. Ich behaupte, daß der Monitor radikal verschieden ist von der guten alten weißen Buchseite – vor allem durch seine erweiterte Operabilität, die nie bei dem stehenbleibt, was hingeschrieben ist. Die gedruckte Buchseite zitiert immer irgendwie noch die in Stein gehauenen Inschriften der alten Monumentalschriften. Die römische Antiqua, die den Prototypus der europäischen Buchdruckkultur geliefert hat, ist eine elegant gemachte Monumentalschrift. Hierdurch war sie besonders
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