Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)
Recht – am »Reichtum« partizipieren. Aber viele oder die meisten wollen den Reichtum nicht in Form eines Geschenks, sie sind durchaus bereit, dafür zu arbeiten. Ist das nicht die Tragik für viele junge Leute, daß ihnen die Möglichkeiten fehlen?
Sloterdijk: An welchen Möglichkeiten fehlt es – doch vor allem an solchen, die von Anfang an Sicherheit garantieren. Die Freiheit, sich von jungen Jahren an als Unternehmer zu definieren, bleibt immer gegeben. Nur darf man nicht vergessen: Freiheit ist ein Attribut, das am Individuum haftet! Sie läßt sich vom einzelnen nicht ablösen, sie läßt sich nicht abstrakt generalisieren! Und wenn auf einen, der von seiner schöpferischen Freiheit Gebrauch macht, 99 kommen, die keinen Gebrauch machen, ist damit das Freiheitsversprechen nicht widerlegt.
PANTEL: Die französische christliche Philosophin Simone Weil – Sie zitieren sie – ist der Auffassung, daß die Einwilligung in das Gesetz, daß die Arbeit zur Lebenserhaltung unentbehrlich sei, der vollkommenste Gehorsamsakt ist, den ein Mensch vollbringen kann, nur vergleichbar mit der Einwilligung in die Sterblichkeit. Wie kann es da sein, daß mitunter der Kauf eines DVD -Players sorgfältiger bedacht wird als die Berufswahl?
Sloterdijk: Ich zitiere diese Äußerung ihrer Übertriebenheit und Überholtheit wegen. Mir scheint, Simone Weil postuliert hier eine Metaphysik des Proletariats, als ob die Schwere des Lebens und die entfremdete Plackerei ewige Konstanten wären. Damit wird aber das Hauptereignis des 20. Jahrhunderts, der Sieg über die Schwere, verkannt. Die Erleichterungskräfte der modernen Technik haben die conditio humana grundlegend verändert. Wir sind keine Lastttiere mehr, die Ära der Schwerarbeit ist beendet, so wie die Ära der Leibeigenschaft vorbei ist. Simone Weil hat diese Erleichterung nicht reflektiert, vielmehr hat sie anachronistisch eine christliche Metaphysik des Arbeiters formuliert und den »freiwilligen täglichen Tod der Fabrikarbeit« auf unangemessene Weise heiliggesprochen, als ob auch Christus an der Werkbank stünde bis ans Ende der Welt. Das sind gewiß noble, aber konfuse Ideen, und vor allem obsolete. Die Automatisierung, die Entlastung, die Absenkung der Arbeitszeit, die Sozialversicherung – das alles ist dabei nicht mitgedacht worden. Wir haben jetzt einen Arbeiter, der eher übergewichtig ist und muskulär unterfordert. Er hat einen hohen Freizeitüberschuß und denkt darüber nach, wie er seine Unproduktivität versteckt. Im Kern der sogenannten produktiven Arbeit findet man noch immer erstaunlich große Hohlräume. Denken Sie daran, wie die Arbeitstage im real existierenden Sozialismus aufgebaut waren: Man mußte nur am Morgen pünktlich zur Stelle sein, danach tat jeder, wonach ihm gerade zumute war. Auch in der westlichen Arbeitswelt gibt es riesige Segmente, in denen es ähnlich zugeht, nicht nur im öffentlichen Dienst. Allgemein dürfte gelten, daß Arbeit immer mit einem Faktor von Arbeitsvortäuschung verbunden ist, inklusive Produktivitäts-, Nützlichkeits- und Unentbehrlichkeitsvortäuschung. Solche Täuschungen stecken im übrigen auch in jedem Produkt, das unser Wirtschaftssystem auf den Markt bringt, denn jede Ware will ja den Käufer überreden, sie zu nehmen, obschon klar ist, daß die Verkäufer es sind, die immer das bessere Geschäft machen – eben aufgrund erfolgreicher Nützlichkeitsvortäuschungen. Von daher sind die jungen Leute, die sich die Anschaffung einer digitalen Kamera oder eines DVD -Players gut überlegen, die Männer und Frauen der Stunde. Sie zeigen, daß sie eines gelernt haben: sie wollen auch als Kunden nicht die Dummen sein, zumindest nicht die Strohdummen. Eine Ware ist ja zunächst einmal immer auch ein Ausbeutungsvorschlag seitens des Herstellers an den Kunden: Kauf mich! Ich nütze dir ein wenig, das ist schon richtig, aber, unter uns gesagt: Ich mache immer das bessere Geschäft. Könnten die Waren ehrlich sein, würden sie genaudas sagen. Ich darf in diesem Zusammenhang an Walter Benjamin erinnern, der den Waren allesamt einen Nutten-Diskurs in den Mund gelegt hat. Geht ein potentieller Käufer vorbei, flüstert die Ware zu ihm: »Komm, Kleiner, ich mach dir's französisch!« – woraufhin der arme Kunde zugreift. Er ahnt ja wohl, bevor nicht der Messias gekommen ist, entgeht man dem System des ungleichen Tauschs nicht.
PANTEL: In den biedermeierlichen Jahrzehnten, schreiben Sie, durften sich die Verteidiger des
Weitere Kostenlose Bücher