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Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)

Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)

Titel: Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
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durch den mütterlichen Staat, die »große Allomutter«, wie Sie ihn nennen – was macht sie aus dem einzelnen, wie verändert sie ihn? Erzieht sie ihn zu Unmündigkeit und Unselbständigkeit?
    Sloterdijk: Diese Formulierung geht zu weit. Wenn man die jungen Leute von heute sieht, sieht man sofort, sie sind nicht wirklich unselbständig, sie sind anspruchsvoll. Und sie sind ungewöhnlich leicht zu beleidigen. Obendrein resignieren sie sehr leicht, etwa im Sinne der bitteren Überlegung: Für alle Halunken gibt's genug, nur an mir wird gespart. Diese Sicht erzeugt das deutsche Wetter, das landesübliche Grau. Immerhin läßt sich dabei der Traum vom Land, in dem Milch und Honig fließen, weiter träumen. Ich stelle fest, daß das erwähnte Märchenmotiv der Moderne, der populäre Traum vom leistungslosen Einkommen, jetzt an den Börsen angekommen ist. Die berühmten »Wertpapiere« drücken ja nichts anderes aus als die Idee, daß man für das bloße Kapitalrisiko ein Einkommen erzielt, das man als Risikoprämie definiert. Fortunatus und Taugenichts lassen bestens grüßen. Allerdings fehlt in den typischen Bereicherungsmärchen der Neuzeit dieser Risikogedanke. Das arme Sterntalerkind wird plötzlich dafür belohnt, daß es ein braves Geschöpf war – es genügt, an der richtigen Stelle zu stehen, wo der Geldregen herunterfällt, und sein Hemd aufzuheben. Fortunatus, der deutsche Wirtschaftsmichel, wird dafür belohnt, daß er sich zur richtigen Zeit im richtigen Wald verirrt hat, wo er der Jungfrau des Glücks begegnen kann, die zu ihm sagt: Sechs Vorschläge habe ich dir zu machen, und einen Wunsch hast du frei. Willst du Weisheit, Stärke, Gerechtigkeit, Mäßigung – die klassischen Tugenden – oder ziehst du Gesundheit oder Reichtum vor? Fortunatus ist ideengeschichtlich wichtig, weil er der erste war – seine Geschichte wurde in dem Volksbuch von 1509 niedergeschrieben und unzählige Male neu aufgelegt –, der angesichts dieser Optionen erklärt: Laßt mich mit euren hohen Tugenden in Ruhe, ich will den Reichtum! Dieser wird ihm gewährt in Form einer Zauberbörse, die jedesmal, wenn man sie öffnet, vierzig Goldstücke enthält in der jeweiligen Prägung des Landes, im übrigen eine perfekte Antizipation des Euro. Bemerkenswert ist nun, daß die Art und Weise, wie das Geld in die Tasche hineinkommt, von dem Besitzer der Börse in keiner Weise erforscht werden muß. Fortunatus, der ökonomische Taugenichts, genießt das Privileg, keine Fragen zu stellen. Die Herkunft des Reichtums muß ihn nicht interessieren. Er braucht nicht in die Produktion zurückzugehen oder in das Steuersystem; er öffnet die Wunderbörse und findet darin immer, was er sucht. Auf der Ebene der Märchenmotive und der Wunschdynamiken wird dieses Phantasma von nachhaltiger Fülle unmittelbar gesetzt und für gültig erklärt, Punkt. Das Geld kommt aus der Börse, wie der Strom aus der Steckdose fließt. Kurzum: Der Gedanke an Produktion wird eingespart. Mit diesem Denksparprogramm wird ein Menschentypus erzeugt, der den Rückgang in die Erzeugung nicht mehr leisten muß. Das ist im übrigen einer der Gründe, warum der Marxsche Produzent-Mensch um eine Dimension komplexer war als der heutige Verbraucher. Die Wohlhabenden von heute stehen eher am Konsumpol und wissen keine Antwort auf die Frage, ob sie verdienen, was sie verdienen. Sie wissen auch nicht, wie der Reichtum wirklich entsteht, und sie wollen es auch nicht mehr wissen, da ihnen, als letzten Menschen, die Produktion ebenso gleichgültig ist wie die Reproduktion. Zwar verfügt der heutige Mensch zwar über eine größere Warenkunde – Marx würde vermutlich zusammenbrechen, wenn man ihm im Hotel eine Speisekarte vorlegte, auf der er unter den zehn Arten von Dressing, mit denen man hier den Salat anbietet, wählen soll. Aber keine Angst, er würde schnell lernen, wie ja auch der heutige Konsument schnell gelernt hat, mit der Überfülle von Optionen umzugehen. Der versierte Warenkundler der Gegenwart kann zwischen Prada und Nicht-Prada auf einen Blick unterscheiden. Das ändert nichts an der Tatsache, daß er um eine Dimension ärmer ist als der Mensch, der in der klassischen Tradition der politischen Ökonomie gelernt hat, dieFrage zu stellen: Woher kommt der Wert? Diese Frage ist jetzt aus dem kollektiven Bewußtsein verschwunden, die Zauberer haben den Produzenten den Rang abgelaufen.
    PANTEL: Die »anspruchsvollen Jugendlichen«, die Sie gerade erwähnten, wollen – zu

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