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Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)

Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)

Titel: Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
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ist, weil soziale Aggregate Gebilde sind, die sich von unten nach oben aus einzelnen Zellen und Schaumblasen aufbauen, verfügen sie über eine enorme Elastizität. Die falsche Semantik der Terrorbekämpfung suggeriert erhabene Bilder vom Einsturz des ganzen Systems. Nichts könnte falscher sein. Wenn zwei große Schaumblasen zerplatzen, vibriert zwar das ganze System eine Weile, aber den übrigen Zellen kann ein solcher Kollaps erstaunlich wenig anhaben. Elastizität ist das erste Merkmal des schaumigen Systems. Folglich muß man über zwei Dinge reden, wenn man über das System der Wohlstandstreibhäuser reden will: Fragilität zum einen, Elastizität zum anderen. Im übrigen bliebe zu untersuchen, ob nicht der Katastrophismus und die Neigung, den neuen Terrorismus mit fabelhaften Überinterpretationen aufzublasen, nur die andere Seite der allgegenwärtigen Neigung zu Mangelfiktionen darstellt.
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    [ 17 ] Dieses Gespräch zwischen Peter Sloterdijk, Manfred Keuler und Paul Pantel erschien unter dem Titel »Komparatisten des Glücks, Über Mangelfunktionen, Reichtumsmärchen und die Politik der Großzügigkeit« in: Manfred Keuler und Paul Pantel (Hg.), Absturz oder Neubeginn. Arbeitswelt in der Globalisierung: Interviews mit Hans-Olaf Henkel, Peter Glotz, Oona Horx-Strathern, Frithjof Bergmann, Rolf Hochhuth, Alexander Kluge und Peter Sloterdijk. GIB Verlag (Gesellschaft für Innovative Beschäftigungsförderung), Bottrop 2004, S. 66-75.

Bild und Anblick.
Versuch über atmosphärisches Sehen

Im Gespräch mit Tim Otto Roth [ 18 ]
    Roth: Herr Sloterdijk, ich möchte im folgenden auf Ihre Erfahrungen im Umgang mit Bildern zu sprechen kommen. Darüber hinaus will ich mit Ihnen auch einen Exkurs in Sachen Imachination unternehmen – ein Kunstwort, mit dem ich die Allianz von imago und machina bezeichnen will. Lassen Sie uns spekulieren über mögliche sphärologische Implikationen des Zusammenspiels von menschlicher Imagination und Maschine. Was für eine Rolle spielen Bilder in Ihrem beruflichen Umfeld?
    Sloterdijk: Nun, man kann die Philosophen einteilen in solche, die sich an der Austreibung der Bilder aus dem Denken beteiligen, und solche, die meinen, das Denken als solches sei auf Bilder, Metaphern und Figuren angewiesen. Es liegt auf der Hand, daß ich mich zu der zweiten Gruppe zähle, obschon diese im akademischen Betrieb bisher nur eine minoritäre, teilweise mißachtete Position innehatte. Dabei wird oft vergessen, daß die Stiftung des allgemeinen Bild-Begriffs, ob als Ikone, ob als Eidos, ins Feld der frühen Philosophie gehört. Es sind die Philosophen, die für sich reklamieren dürften, die originären Bildtheoretiker gewesen zu sein, sofern sie die Bilder als Bilder überhaupt entdeckt und ernst genommen haben. Um dies verständlich zu machen, muß man sich einen selten bedachten Sachverhalt ins Gedächtnis rufen: Bevor die Philosophieentstand, herrschte bei den Griechen wie überall sonst eine Sehweise vor, die dem Absolutismus der natürlichen Anblicke unterworfen war. Das Auge schaut in die Umstände hinaus, wenn man so unbesorgt formulieren darf, und findet ein holistisch verfaßtes Kontinuum von visuellen Anwesenheiten vor. Die Summen dieser Präsenzen werden nicht als isolierbare Bilder wahrgenommen, sondern als Aspekte des »Umstands« oder der »Umgebung« im ganzen, dafür sagt man traditionell Natur oder neudings Umwelt. Dieser Umgebungsganzheit rückt nun die Philosophie, immer im Bündnis mit den ersten Wissenschaften, Geometrie, Arithmetik, Semantik, analytisch zuleibe. Die Philosophen können wirklich für sich in Anspruch nehmen, daß sie die ersten waren, die so etwas wie einen Sucher entwickelt haben, mit dem man in das holistisch strukturierte Kontinuum der sichtbaren Umstände Ausschnitte hineinprojizieren konnte. Wenn Sie so wollen, haben die Philosophen eidetische Stanzmaschinen erfunden, mit denen man aus dem flächig ausgebreiteten Teig des Anwesenden Formen aussticht und dabei definitorische Erklärungen abgibt: Dies ist der Umriß eines Pferdes; dies ist der Umriß eines Menschen; dies ist der Umriß eines Sterns; dies ist der Umriß eines gerechten Mannes. Die Urbilderseherei wird in der Philosophie zu sich gebracht. »Bild« meint hier noch nicht einen Weltausschnitt in einem Rahmen, sondern der Umriß einer Sache, die sich dank ihrer Konturen quasi selber den Rahmen gibt. Es ist natürlich kein bloßer Zufall, wenn schon auf der sprachlichen Ebene die von Platon

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